Weisheit und Magie der Traumwelt
Seelenschau 07/23: Poesie der Sommernacht
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
„Du kannst das Leben nur verstehen, wenn du dir selbst die Hoffnung lässt. Wer Träume stutzt, um Ängsten zu entgehen, der wird den Toten gleich und vieles niemals sehen – von all dem menschgewordenen Fest. Erlaube dir, dich hinzugeben, zu dem, was dich zum Träumen drängt. Es ist dem Menschen nun mal eigen, so möge ihm die Hoffnung zeigen, wie alles stets an Träumen hängt.“ (aus: Grüne Seelen, 2021)
In der Antike waren Träume weit mehr als bloße nächtliche Fantasien – sie überbrachten göttliche Botschaften, die das Schicksal ganzer Reiche beeinflus-sen konnten. Die griechische Mythologie ist reich an Geschichten, etwa von Morpheus, dem Gott der Träume, bekannt für seine Fähigkeit, in verschiedenste Formen zu schlüpfen und in den Träumen der Sterblichen Gestalt anzunehmen. Sein Bruder Phobetor konnte sich in furchterregende Kreaturen verwandeln und Albträume heraufbeschwören, während beider Vater Hypnos, der Gott des Schlafes, mit seinem Zauberstab den Schlaf und somit die Traumwelt herbeiführte. Die römische Mythologie adaptierte diese Figuren. So wurde Morpheus zum geflügelten Boten Somnus. Neben den griechischen und römischen Göttern verstanden sich Orakel und Priester auf Traumdeutungen. Die Bibel erzählt ebenfalls faszinierende Geschichten über Träume. Einer der bekanntesten Träumer ist Josef. Jakobs Sohn könnte nicht nur seine eigenen Träume interpretieren, sondern auch die Träume anderer. Seine Gabe brachte ihm zunächst Neid und Verderben ein, als seine Brüder ihn in die Sklaverei ver-kauften. Doch durch die göttliche Fügung und seine Traumdeutungsfähigkeiten konnte Josef das Leben des ägyptischen Pharaos beeinflussen, indem er ihm prophezeite, dass sieben Jahre des Überflusses von sieben Jahren der Hungersnot gefolgt werden würden. Der Pharao erhob Josef daraufhin zum obersten Verwalter seines Landes und rettete somit nicht nur Ägypten, sondern Josefs Familie vor dem verheerenden Hungertod. Sowohl die Antike als auch die biblischen Erzählungen entführen uns in eine Welt, in der Träume Wegweiser und Schicksalsbote waren. Inmitten der Stille der Nacht erheben sich unsere Träume wie majestätische Schiffe aus dem uner-gründlichen Ozean unserer Seele, um uns auf eine Reise durch unbekannte Welten und verborgene Schätze unserer Psyche zu führen.
Doch die stille und dunkle Nacht ist mittlerweile ein seltenes Phänomen. Dunkelheit spielt eine entscheidende Rolle für einen gesunden Schlaf. In der Dunkelheit produziert der Körper das Schlafhormon Melatonin, das den Schlaf-wach-Rhythmus reguliert. Lichtverschmutzung kann die Produktion von Melatonin beeinträchtigen und den Schlaf stören. Stille wiederum ermöglicht es dem Körper, sich zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. In Deutschland leiden laut aktuellen Studien rund 80 Prozent der Bevölkerung „schlechtem Schlaf”. Ein gestörter Schlaf kann das Immunsystem schwächen, da während des Schlafes wichtige Reparatur- und Erholungsprozesse im Körper stattfinden. Viele Krankheiten lassen sich auf schlechten Schlaf zurückführen. Künstliches Licht schadet nicht nur uns – sondern auch der Natur. Es kann den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus von Pflanzen und Tieren stören. Es beein-flusst die Fortpflanzung, Nahrungssuche, Migration und das Schlafverhalten vieler Arten. Zum Beispiel können Lichtquellen in der Nähe von Brutgebieten Vögel desorientieren und ihre Fähigkeit zur Aufzucht ihrer Jungen beeinträchtigen. Bei nachtaktiven Insekten kann künstliches Licht zu einer Unterbrechung ihrer natürlichen Lebenszyklen führen. Aus diesem Grund gibt es Schutzgebiete vor künstlichem Licht, die als Dark-Sky-Parks oder Lichtschutzgebiete bezeichnet werden. Dies ermöglicht auch den Menschen, die Schönheit des natürlichen Sternenhimmels zu erleben und die gesundheitlichen Vorteile eines ungestörten Schlafs zu genießen.
Die Psychoanalyse, mit ihren bahnbrechenden Pionieren Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, öffnete uns die Augen für eine neue Dimension des Verstehens unserer Träume. Was, wenn unsere Träume tatsächlich Fenster zu unserer Seele wären? Einzigartige Zugänge zu den verborgenen Tiefen unseres Unbewussten? Könnten sie uns helfen, menschliche Konflikte und Sehnsüchte besser zu begreifen und uns selbst auf einer grundlegenderen Ebene zu erken-nen? Freud und Jung waren überzeugt: Wenn wir unsere Träume erforschen und deuten, können wir unsere verborgenen Ängste, verdrängten Wünsche und komplexen Beziehungen besser verstehen. Indem wir in die Welt unserer Träume eintauchen, lernen wir die verborgenen Schichten unserer Psyche kennen und können so persönliche Wachstums- und Heilungsprozesse anstoßen. Die moderne Kunst greift diese faszinierende Verbindung zwischen Träumen und Kreativität auf und stellt sie ins Zentrum ihrer Schaffenskraft. Salvador Dalí, der Meister des Surrealismus, bannte seine traumhaften Visionen auf Leinwand und schuf so unvergessliche Kunstwerke wie „Die Beständigkeit der Erinnerung“. René Magritte, ein weiterer großer Künstler der Moderne, brachte die Rätselhaftigkeit des Unbewussten in seinen Bildern wie „Der Sohn des Mannes“ zum Ausdruck und regte damit unsere Vorstellungskraft und Neugier an. Können wir durch das Studium dieser Kunstwerke und das Hinterfragen unsere eigenen Träume unser kreatives Potenzial entfesseln? Die große Bedeutung des nächtlichen Träumens Aus moderner Psychologie und Neurowissenschaft ist mittlerweile belegt und bekannt, dass Träume eine zentrale Rolle für unser Gedächtnis, Lernen und emotionales Wohlbefinden spielen. Während wir schlafen, verarbeiten unsere Gehirne Erlebnisse des Tages und festigen Erinnerungen. Träume dienen als Bühne, auf der wir das Gelernte spielerisch einüben und neue Fähigkeiten erwerben können – manchmal sogar auf verblüffend kreative Weise, die uns im Wachzustand verborgen bleibt. Die sogenannte Zwei-Prozess-Theorie der Gedächtniskonsolidierung zeigt, wie Träume in die Speicherung von Informationen und das Lernen eingebunden sind. Im Schlaf, insbesondere während der REM-Phase, arbeiten das Hippocampus und der Neocortex zusammen, um Erlebnisse und Informationen aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis zu überführen. Dabei werden unnötige Details aussortiert und wichtiges Wissen gestärkt – ein Prozess, der maßgeblich zum Lernen und Gedächtnis beiträgt. Auch auf das emotionale Wohlbefinden wirken sich Träume aus. Es ist bekannt, dass Träumen eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung und Reduzierung emo-tionaler Belastungen spielt. In Träumen, vor allem während des REM-Schlafs, wird die Aktivität des Amygdalakomple-xes, der für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist, verringert. Dies ermöglicht es uns, mit unseren Ängsten und Sorgen umzugehen, ohne dabei von heftigen Emotionen überwältigt zu werden.
Naturheilkundliche Ansätze ergänzen dieses Bild und bieten einen weiteren Zu-gang zur Bedeutung des Träumens und der Bewältigung von Schlafstörungen. Die Kraft der Heilpflanzen wie Baldrian, Melisse und Lavendel fördert einen gesunden Schlaf und unterstützt das Träumen. In der Naturheilkunde gilt das Träumen als Ausdruck der Selbstheilungs-kräfte und der Harmonie von Körper, Geist und Seele. Durch das bewusste Pflegen unserer Träume können wir nicht nur unsere nächtlichen Erlebnisse intensivieren, sondern unser allgemeines Wohlbefinden steigern. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die Einbindung von Entspannungsübungen wie Meditation, autogenes Training oder Yoga in unseren Alltag. Als ich mich vor einiger Zeit intensiv mit dem Thema Klarträumen beschäftigte, eröffnete sich mir eine weitere Welt. Ich lernte, meine Träume bewusst zu steuern und dadurch meine kreative Schaffenskraft zu entfalten. Der Sommer mit seinen langen, warmen Nächten bietet die perfekte Gelegenheit, unseren Träumen mehr Raum zu geben und uns von ihrer vielschichtigen Welt verzaubern zu lassen. Denken Sie an die Worte von Edgar Allan Poe: „Man träumt nicht, um zu schlafen, man schläft, um zu träumen.“