Vom Elfenbeinturm zum Schmiedefeuer: Die Renaissance der Werkstatt
Seelenschau 06/23: Bildung für alle
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Mit dem Aufkommen Künstlicher Intelligenz (KI) ist es an der Zeit für eine neue Ära in der Bildungspolitik. Es gilt, gelungene Schulkonzepte zu ent- wickeln, die den Fokus auf mündliche Prüfungen, Präsentationen, Planen, Bauen sowie soziale und empathische Fähigkeiten legen. Die Arbeit mit den Händen, Natur, Kunst und Wissenschaft – all dies sind Bestandteile eines erfüllten und sinnstiftenden Daseins und wären ein „Sondervermögen“ wert.
Eine länderübergreifende Bildungsreform erscheint aus meiner Sicht unvermeidlich, wenn wir als Gesellschaft bestehen wollen. Lasst uns alle, egal ob Einwanderer, Mitläufer oder Platzhirsche, unsere Nischen verlassen und uns nackt machen, um gemeinsam mit Herz, Verstand und Hand zu lernen. Was für ein Zufall: Unsere Kinder kommen mit dieser wunderbaren Fähigkeit bereits zur Welt. Ich erlebe es jeden Tag. Treiben wir ihnen diese unvoreingenommene Schöpferkraft künftig nicht länger aus, denn nur ein innovatives Bildungssystem wird den Weg zu Wohlstand und Krisenresilienz ebnen. Künstliche Intelligenz, gesellschaftliche Veränderungen, Krieg und Klimawandel – gewiss keine leichte Kost für einige junge Menschen. Doch ihre Bildung gleicht bestenfalls einer Rettungsweste, die sie auf der Oberfläche hält, ohne sie je ans Ufer zu bringen. Erkenntnis, kritischer Geist, eigene Meinung? Fehlanzeige!
Stattdessen: oft das Althergebrachte beständig abarbeitend, ohne Müßiggang und oft ohne Eifer, sich stets vor dem Unbekannten scheuend. Andere wiederum jagen der großen Karriere hinterher, gleich einer Eintagsfliege, die in ihrem kurzen Leben alles erreichen will. Endlich dazugehören! Abschlüsse, Statussymbole, teure Reisen sind wie Blumen, die ihr Leben schmücken, aber die wahren Arbeiter im Schatten ihrer Scheinwelt verbergen. Käfigvögel, die dieselbe Angst umtreibt: bedeutungslos zu sein – oder zu werden.
Die Lösung? Ein lebenslanges Bildungs- und Fortbildungssystem, das Schüler und Bürger in ihrer unbedingten Entfaltung fördert. Ein Lernsystem, das Hand- werker, Polizisten, Pfleger, Erzieher, Lehrer, Heizungsbauer, Ingenieure, Ärzte und Köche in den Fokus rückt, ihren Wert erkennt und ihnen den Respekt und den Lohn zollt, den sie verdienen. Denn herausragende Arbeit – gleich ob Gärtner oder Akademiker – bleibt herausragend. Erinnern wir uns an Persönlichkeiten wie die britische Krankenschwester Florence Nightingale (1820 – 1910), die das Ansehen der Krankenpflege revolutionierte, oder den preußischen Staatsmann Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835), der eine ganzheitliche Bildung anstrebte. Ja, ganzheitliche Bildung ist der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen und gerechten Welt. Doch unser Bildungssystem reproduziert die Vorurteile seiner Gründer.
So mag es uns als Nation im goldenen Käfig erscheinen, dass die deutschen Handwerker, jene emsigen Meister ihrer Zunft, deren Ruf einst auf der ganzen Welt schallte, hierzulande zunehmend in Vergessenheit geraten. Wie vermochte ein Land, das für sein duales Ausbil- dungssystem international Anerkennung findet, das Handwerk aus den Augen zu verlieren? Die Lücken des Wohnungsmarktes – es fehlt an 700.000 Wohnungen in Deutschland – zeigen sich in den Straßen von Berlin, München und Ham- burg. Ein offenkundiges Zeugnis unseres Versagens, diejenigen zu fördern, die unser Fundament errichten. Doch wie konnte es dazu kommen? Der Ruf nach Handwerkern und Fachkräften tönt durchs Land. Führungskraft bedeutet eben nicht zwangsläufig Fachkraft.
Falsch verstandener soziokultureller Habitus
Zurück zum Anfang des Übels – in die Schulen. Es ist traurige Realität, dass Lehrer an Grund- und Mittelschulen weniger verdienen als ihre Kollegen am Gymnasium. Vielleicht liegt es daran, dass sie nur die Kinder von Max Mustermann und die der Einwanderer unterrichten und dabei oft auch mit erheblichen familiären Problemen der ihnen anvertrauten Schüler konfrontiert sind, während die Gymnasiallehrer die künftigen „Macher“ formen? Handwerk hat goldenen Boden – nur bitte nicht, wenn es den eigenen Sprössling betrifft.
Im Wintersemester 2022/23 stellten sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München lediglich zehn junge Menschen der Herausforderung, das Lehramt an einer Mittelschule zu ergreifen. Ein Armutszeugnis für unser Bildungssystem. Die Wohlhabenden entsenden ihre Kinder mitunter auf Privatschulen und später an private Universitäten, während sich die Führungskräfte in gesonderten Fortbil- dungseinrichtungen selbstgerecht auf die Schulter klopfen. Allein: Ihr Lohn, bei Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen oft hundertfach höher als der des Mitarbeiters, gründet nicht auf gerechter Verteilung, sondern auf gesellschaftlichem Unverständnis. Handwerkliche Leistung wird dagegen abgewertet. Längst gründen viele große Unternehmen eigene Akademien, formen und ziehen sich ihren Nachwuchs. Der Staat schaut derweilen zu und verramscht seine Bildungsideale.
Studien der Harvard Universität zeigen, dass vielfältige soziale Kontakte im Beruf und handwerkliches Schaffen zufriedenere Menschen hervorbringen als die Arbeit im Büro. Aber eine mental gesunde und sinnerfüllte Arbeiterschaft braucht keinen exzessiven Konsum als Ersatzbefriedigung. Unsere Gesellschaft hat über Jahrzehnte hinweg den Wert praktischer Arbeit wortwörtlich untergraben, indem sie auf die Akademisierung der Gesellschaft setzte. Doch was den Konsum stärkt, untergräbt Kulturtechni- ken und wahres Erwachsen. Das Versprechen des gesellschaftlichen Aufstiegs hat uns in die Bildungsinflation geführt – und zur Abwertung derjenigen, die das Land aufrechterhalten. Einst verfügte jede Gemeinschaft über genügend Mitglieder mit den Fähigkeiten und Kompetenzen, die für das Überleben der Gruppe unverzichtbar waren. Jeder Einzelne spielte eine bedeutende Rolle und trug Verantwortung für das Wohl der Sippe und der Gesellschaft. Doch in der modernen Welt beobachten wir eine starke Tendenz, dass sich die meisten Menschen auf eine begrenzte Anzahl von Berufen und Karrierewegen konzentrieren, die als prestigeträchtig und lukrativ gelten. Im Ergebnis fehlt es an Fachkräften und elementaren Fähigkeiten, die für eine stabile Gesellschaft unerlässlich sind. Wir können wie die Welt- meister Marketingkennzahlen durch Klicks auf Instagram produzieren, aber das Funktionsprinzip des Reißverschlusses nicht mehr erklären. Der umgekehrte Flynn-Effekt beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Frage, warum der IQ seit einigen Jahren wieder sinkt. Es ist an der Zeit, das Narrativ der Aufstiegsgesellschaft zu hinterfragen und die Scheuklappen abzulegen. Ein Bildungssystem muss den Horizont aller erweitern und den einiger erden.
Dem Lernen ins Auge sehen – und damit dem Leben
Es gilt, den individuellen Lernweg jedes Einzelnen auch im erwachsenen Alter zu fördern. Bildungsabschlüsse dürfen nicht nur einer wirtschaftlichen Dienlichkeit frönen. Was wir brauchen, ist ein kritisches, Wissen vermittelndes und buntes Bildungssystem, in dem und in das sich alle gesellschaftlichen Schichten verpflichtend treffen, engagieren und investieren – ohne Ausnahme. Nur so können wir nachhaltige, sinnstiftende Lebensformen, menschenfreundliche Städte, Schulen und Arbeitsplätze schaffen, die zu mentaler Gesundheit, einer gesunden Natur und einem gesunden Menschen führen. Die Entwicklung künstlicher Intelligenz wird uns wohl oder übel zwingen, Exzellenz und zwischenmenschliche Interaktion in den Vordergrund zu stellen.
Es ist Zeit zu erkennen, dass vermeintliche Überlegenheit bloß ein flüchtiges Konstrukt ist und die Versagensangst bezüglich lebenslangen Lernens abzulegen. Die Keimzelle dieser Wandlung ist die Schule.