Im schönen Schatten der Ewigkeit
Seelenschau 08/23: Eine Italienreise
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Majestätisch erhebt sich die Statue. Behutsam getragen von unzähligen Schichten menschlicher Erfahrungen und Sehnsüchte, eingehüllt in ihr steinernes Gewand. Als stummer Zeuge vergangener Zeiten und Vermächtnis der Künstler, die ihre Seele in Marmor und Bronze eingravierten, spiegelt sie die unermüdliche Suche nach Sinn, Schönheit und Verbundenheit. In einer Zeit, in der funktionale Prioritäten dominieren, Kommerzialisierung allgegenwärtig ist und die Digitalisierung unseren Alltag beherrscht, wird immer deutlicher: Wollen wir den Nährboden unserer Menschlichkeit bewahren und gesund bleiben, dürfen wir der Kunst mehr huldigen.
Die engen Gassen, die versteckten Höfe und die malerischen Plätze sind ein wahrer Genuss für die Sinne. Die Liebe zum Detail, die Sorgfalt in der Gestaltung und der Erhaltung des historischen Erbes sowie die enge Verbindung zur Kunst und Kultur tragen zur besonderen Schönheit der italienischen Städte bei. Alles scheint belebt und atmet den Geist einer demütigen Erhabenheit.
Ähnlich verhält es sich mit den charmanten Fachwerkhäusern in deutschen Dör-fern, deren verspielte Architektur einladend wirken. Die Schönheit der Fassaden war einst nicht nur ein Privileg der Reichen. Sie drückte oft die Wertschätzung gegenüber dem eigenen Zuhause und das menschliche Streben aus. Früher wurden Kunst und Baukunst nicht als separate Disziplinen betrachtet, sondern als untrennbare Einheit. Architekten waren gleichzeitig Künstler und Handwerker. Jetzt zu Mariä Himmelfahrt, am 15. August, erzählt die Pietà in Rom, ein Meisterwerk des jungen Michelangelos, die zeitlose Geschichte von Liebe und Verlust. Die ruhenden Hände Marias hal-ten den zarten Körper ihres Sohnes. Es scheint, als würde sie ihn schützen und umhüllen. Dabei blickt sie still auf seine Wunden. Die Stille der Szene durchdringt den Raum und lässt uns die Tiefe der Menschlichkeit erahnen. In diesem ehrwürdigen Moment verschmelzen Schönheit und Tragik zu einer universellen Harmonie.
Die Pietà ruft in uns die Erinnerung an eine unermessliche Liebe hervor, die über den Tod hinausgeht, und die uns zu Hoffnung und Trost in dunklen Stunden führt. In ihrer Gegenwart erwacht in uns der Wunsch, Schönheit und Moral in unserem eigenen Leben zu vereinen, um eine tiefere Erfüllung zu finden. Wir werden dazu angeregt, über universelle Themen nachzudenken. Wenn wir unseren Blick nach Florenz richten, begegnen wir David, einem wei-teren Meisterwerk Michelangelos. Diese Statue manifestiert den Stolz der florenti-nischen Seele und den unbeirrbaren Willen, Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen. Doch der David verkörpert nicht nur ästhetische Perfektion. Er symbolisiert den Triumph des menschlichen Geistes über die Herausforderungen des Lebens. In seiner majestätischen Gestalt spiegelt sich der Mut wider, riesenhafte Hindernisse zu überwinden.
Für Goethe war die Schönheit Italiens ein Quell der Bildung und der persönlichen Entfaltung. Er war der Überzeugung, dass der Kontakt mit der Schönheit uns zu einer höheren Form der Erkenntnis führen könne. Folgt man dieser Vorstel-lung, ist es töricht zu meinen, ein Hauch von Kunstgenuss im Urlaub reiche für das ganze restliche Jahr. Es muss uns gelingen etwas von dem Künstlerischen, von der Anmut in unseren Alltag zu retten. Nicht etwa, weil uns die physische Gesundheit die 10.000 Extraschritte im Museum goutiert. Vielmehr, weil Kunst und Ästhetik mit unserer Geschichte verschmolzen sind. Weil sie uns kalibrieren.
Das goldene Licht des italienischen Sommers
In den sanften Strahlen eines italienischen Sommers, in den güldenen Reflexen der Statuen, die wie stille Wächter über Jahrhunderte hinweg verweilen, erhasche auch ich einen flüchtigen Blick auf das Schöne und das Gute als einen Tempel der Erlösung. Auf den Stufen dieses Tempels darf ich mein gebrochenes Lachen, mein erschöpftes Herz niederlegen und in Demut den Hauch des Göttlichen in meiner Seele spüren. In diesem Augenblick erahne ich, dass das Schöne, das Gute und die Suche nach Erlösung untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn wir eines dieser Elemente vernachlässigen, geraten wir auf gefährliche Abwege – als Individuum und als Gesellschaft.
Die Bedeutung der Schönheit in unserem Leben ist nicht nur subjektiv empfunden, sondern wissenschaftlich belegt. Zahlreiche Studien zeigen, dass ästhetische Erfahrungen positive Auswirkungen auf unser Wohlbefinden, unsere emotionale Gesundheit und unsere kognitive Leistungsfähigkeit haben. Schöne Umgebungen und ästhetische Reize können Stress reduzieren, das Immunsystem stärken und das allgemeine Glücksempfinden steigern.
Künstlerische Aktivitäten und der Kontakt zum Schönen fördern die Sinneswahrnehmung, die Entwicklung, die Kommunikationsfähigkeit und die Möglichkeiten, sich emotional auszudrücken. Darüber hinaus fördert die Ästhetik den sozialen Zusammenhalt und die Verbundenheit unter den Menschen. Gemeinsame entsprechende Erfahrungen können zu einem tieferen Verständnis und einer empathischen Verbindung führen. Sie dienen als Inspiration dazu, Werte zu teilen und eine Identität des Miteinanders zu entwickeln. Es liegt in unserer Verantwortung, die Schönheit unserer Umwelt zu erkennen und zu schätzen und zwar überall – in Schulen, Krankenhäusern, bis hinein in den sozialgeförderten Wohnungsbau.
Widerstand gegen die Lieblosigkeit moderner Städte
Doch welchen Visionen folgen die zahlreichen modernen Städte, deren Betonwüs-ten und gläsernen Fassaden zwar den DIN-Normen genügen, doch die Strukturen in den Mittelpunkten stellen und nicht den Menschen? In dieser Hinsicht sind die pulsierenden Straßen von Barcelona und Kopenhagen wahre Oasen des Widerstands gegen die funktionale Ober-flächlichkeit. Barcelona transformiert mit dem Superilla-Konzept Straßen in grüne Kreativitäts-Oasen und bricht mit überhol-ten Planungsvorstellungen. Die Superillas setzen auf Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Vielfalt. In Kopenhagen hingegen ist die Fahrradfreundlichkeit zur Revolution ge-worden und hat die Stadt zu einem globalen Vorbild gemacht. Durch den Ausbau von Fahrradwegen und -parkplätzen sowie die Förderung einer Fahrradkultur wird das Radfahren zum integralen Be-standteil des Stadtlebens. Diese Initiativen reduzieren den Autoverkehr, verbessern die Luftqualität und forcieren die körperliche Aktivität. Barcelona und Kopenhagen zeigen, dass moderne Städte ihre Seele bewahren können, indem sie innovative Planung und Nachhaltigkeit kombinieren. Lassen wir uns von ihnen inspirieren, den Wandel zu einer harmonischen und lebenswerten Umgebung auch in anderen Städten voranzutreiben.
Nur Farbe, keine Worte: himmelweit und tiefseeblau
Inmitten der unendlichen Schönheit und dem Streben nach dem Guten offenbart sich eine Sehnsucht in uns, die nach einer höheren Erfüllung strebt. Diese Suche ist eine Erinnerung daran, dass wir mehr sind als nur flüchtige Passanten in der Zeit. Im Schatten der alten Meister, in den fluoreszierenden Lichtern eines italienischen Sommers, erwacht eine uralte Erinnerung in mir. Ohne Worte. Nur in Farbe, Licht und Klang – himmelweit und tiefseeblau! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen zauberhaften Sommer, erfüllt von zeitlosen und unvergesslichen Momenten, die Ihre Seele berühren.
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Mankau, Murnau a. Staffelsee 2021.