Begeisternde Weihnachten
Seelenschau 12/23: Von der Erwartung zur inneren Haltung
(Von Thomas Lambert Schöberl – Buchautor, Lehrer & Heilpraktiker)
Wenn der erste eisige Hauch den Wald küsst und dabei erdige Düfte knorriger Rinde und schlummernder Gräser mit auf seine Schwingen nimmt, begrüßt uns leise der Advent. In stiller Nacht erwachen nicht nur die Geister der Wintersonnenwende durch alte Märchen und Legenden zu neuem Leben. Weltweit berühren Rituale und Erzählungen von mystischen Wundern die Herzen. Sie vereinen verschiedenste Kulturen und lassen uns innehalten. Die universelle Botschaft der Weihnacht als Höhepunkt ist eine zeitlose Metapher. Sie begegnet uns vielerorts – wenn wir sie sehen wollen.
Im Dezember wandert die Sonne in den Schützen. Mit festem Blick und stählernem Willen schießt er Pfeile von seiner Festung der Intention in das unbekannte Morgen. Und hier begegnet uns bereits ein Geist der Weihnacht – nicht in einer passiven Erwartung, sondern in einer aktiven Haltung. Eine Haltung, die uns Offenheit, Flexibilität, Geduld, Mut und unbedingte Zuversicht abverlangt. Der Lohn? Freiheit, Frieden und Fülle.
Doch seien wir ehrlich, spätestens bei der Frage, ob wir an Weihnachtsmann und Co. glauben, winken viele von uns ab. Und doch steckt viel Lebendiges in ebendiesen Figuren. Der historische Bischof Nikolaus von Myra (starb 343 n. Chr. in der Türkei) wurde zum Vorbild für ebenjenen Weihnachtsmann, der sich mühelos über den Kamin Zugang zu unseren Zimmern verschafft und dessen Sack so viel mehr enthält als materielle Geschenke. Da sind Gaben, die der Seele Behaglichkeit spenden und vor der Vitamin-C-Mangelerkrankung Skorbut schützen. In alten Zeiten bestückte er die sorgfältig geputzten Schuhe von Groß und Klein mit seinem zauberhaften Segen, einem Segen, der uns dann wortwörtlich gesund und leichten Fußes durchs ganze neue Jahr tragen sollte.
Seine Rute, ein Haselzweig, hat nichts Strafendes. Sie ist seine Antenne zur geistigen Welt, ein Fruchtbarkeitssymbol, das mit schelmischen Hieb der Wiedergeburt der Ahnen und den zarten Frühlingsgefühlen der Jugend auf die Sprünge hilft. Wir finden die Idee vom weisen und wohlwollenden alten Mann weltweit – in verschiedenen Variationen: im „tiefen Tann“ Mitteleuropas, als ein mit Stechpalmen geschmückter „Grüner Mann“ auf den britischen Inseln und am Mittelmeer, oder als Schamane begleitet von seinen Krafttieren, den Rentieren. Er lehrt uns, dass kein Dunkel die Wahrheit und die Barmherzigkeit bezwingen kann.
Lebenskraft und Liebe erstrahlen in Grün und Rot
Nun wird es in unseren Stuben mit jedem neuen Lichtlein auf dem Adventskranz etwas heller, während draußen die Dunkelheit zunimmt. Der Kranz, symbolisch ein Sonnenrad, reflektiert die zyklische Natur unserer Existenz. Er ist gezeichnet durch die vier Kardinalpunkte, die die Tag- und Nachtgleichen und die Sonnenwenden markieren. Sein saftiges Grün steht für den konstanten Fluss der Lebenskräfte. Das tiefe Rot der Kerzen und des Bandes symbolisiert Liebe, Opferbereitschaft und Festlichkeit.
Vor dem Hintergrund uralter Traditionen wie der Wintersonnenwende, legte Papst Liberius im Jahr 354 n. Chr. den 24. Dezember als offizielles Geburtsdatum Jesu fest. Hierin zeigt sich, wie sich selbst das Fest des Lichts immer wieder den gegebenen Umständen anpasst und sich neuformiert. Ähnlich formte sich meine eigene Weihnachtserfahrung um: In meiner Kindheit brach die konventionelle Weihnacht durch die Trennung meiner Eltern. Doch statt an Bedeutung zu verlieren, wandelte sich das Fest für mich in ein Sinnbild der Gemeinschaft, das über das traditionelle Familienmodell hinausgeht und mir das ganze Jahr Verbundenheit und Resilienz schenkt.
Weihnachten erzählt vielfältige Geschichten – von Wüstenwanderung, von überstürzter Flucht, von Mordkomplotten, von Suche nach Wahrheit und der Korruption der Seele durch Macht. Dann versammeln wir uns erneut vor der Krippe, in der das Christkind ruht, umgeben von Heu, Kräutern und Stroh – den Symbolen heilender Vegetation. Die dargestellten Hirten, in ihrer schlichten Einfachheit, verkörpern diejenigen, die das Wunder der Schöpfung im Herzen spüren und verstehen. Feiertage sollen in erster Linie dem Wohle der Menschen dienen. Um sie zu bewahren, sind Flexibilität und Anpassungsfähigkeit essenziell. Wir sollten bereit sein, die Bilder und Praktiken der Weihnachtszeit wandelbar und zeitgemäß zu gestalten – wider starrem oder abgemühtem Festtagskitsch.
Wenden wir unseren Blick nun ganz gen Süden, nach Malta, erinnert uns diese Insel, geschmückt mit über 360 Kirchen, daran, dass Schnee keineswegs verpflichtend ist für das Fest ist. Malta ist weltweit berühmt für seine kunstvollen Krippen, seine atmosphärischen Lichterfeste und für seine weltweit einzigartigen Feuerwerke. Die maltesische Weihnacht verkörpert eine Gemeinschaft, die durch Jahrhunderte hinweg von Glauben, Hoffnung und Widerstand geformt wurde. Malta strahlt eine tiefgreifende Verehrung von Natur und Licht, von Toleranz und Vielfältigkeit aus. Wo mächtige Kathedralen sich neben bunten, von jungen, kreativen Köpfen geleiteten Geschäften behaupten, positioniert sich das erste europäische Land, das Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität verfassungsrechtlich untersagt hat.
Unter den festlich geschmückten Straßenzügen Maltas verbirgt sich sogar eine zweite Stadt, eine noch massivere Trutzburg des Optimismus und der Resistenz. In den ausgedehnten Katakomben, die Ritter und Mönche bereits im Mittelalter als Schutz vor osmanischen Invasionen ins Gestein schlugen, fanden die Insulaner im Zweiten Weltkrieg erneut Zuflucht. Zur Weihnachtszeit spendeten kunstvoll in Stein gemeißelte Reliefs des Christkinds unter Tage Trost. Zurück an der Oberfläche blickt in der maltesischen St. John’s Co-Cathedral Johannes der Täufer, durch Caravaggios virtuosen Pinselstrich verewigt, seinem schicksalhaften Ende entgegen. Gebunden – aber unerschütterlich in seiner Botschaft. Nur einen Steinwurf davon entfernt, mahnt ein inoffizielles Denkmal an die Journalistin Daphne Caruana Galizia, ermordet für ihre Entlarvung politischer Korruption im Rahmen der Panama Papers. Auch sie sind Lichter in der Dunkelheit. Eine Erinnerung an das beharrliche Streben nach Wahrheit – eine Verkörperung des reinsten Geistes der Weihnacht.
Wie wir auf Äußeres reagieren: eine Frage innerer Haltung
Ja, Weihnacht ist dort, wo Authentizität und tief empfundenes Dasein sich entfalten dürfen. Weihnachten, losgelöst von aller Art festgefahrener Erwartungen, kann zu einer kraftvollen Haltung heranreifen, die unsere eigene, kleine große Welt für immer verändert. Dann wird sie zu einem göttlichen Geist, einem Spirit, der die Menschlichkeit feiert. Erkennen
wir an, dass der Großteil unseres Daseins weniger von den Ereignissen geformt wird, die uns widerfahren als vielmehr davon, wie wir uns entscheiden, ihnen zu begegnen. Nun, welche Geister rufen Sie? Wer erscheint Ihnen beim Glockenschlag der stillen Nacht? In einer Zeit, in der Wände oftmals höher und breiter als Brücken errichtet werden, laden uns die Weihenächte dazu ein, über die Ozeane unserer Unterschiede hinwegzusegeln und uns in der universellen Sprache der Liebe zu begeistern. Möge Ihre Weihnacht eine Zeit sein, in der Sie sie nicht als einsame Insel wahrnehmen, sondern als wirksamer Teil dieses wunderschönen Kontinents der Menschlichkeit.