Echos im Nebel
Seelenschau 11/23: Ein Herbstgesang
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Die Melodie von Hubert von Goiserns „Hast as ned, wia de Zeit vergeht?“ schwebt durch die Stille meiner Gedanken, gerade in dem Moment, in dem der November seinen schweren Mantel aus Dunkelheit über die Erde ausbreitet. Jahreszeitlich erleben wir jetzt die Phase der stillen Einkehr. Die Zeit selbst scheint ihren Takt zu drosseln und uns den Raum zu schenken, um die Tiefen unseres Daseins zu ergründen. Es ist ein kurzer Moment des Innehaltens, denn wir wissen, dass der Dezember mit seinem Rausch an Festlichkeiten und Hektik bald alles wieder in Bewegung setzen wird.
In unserer zunehmend modernisierten Welt erbleichen die kulturellen Erinnerungen: darunter über Jahrhunderte bewährte natürliche Praktiken und ein generationsübergreifendes Verständnis für die Wirkung heilender Kräuter. Die Landflucht hat diese Entwicklung gefördert. Eine Entwicklung, durch die wir nicht nur die Verbindung zu unseren Vorfahren, sondern auch zu uns selbst verlieren.
Der November, eine Zeit der introspektiven Stille, legt diesen Verlust für viele Menschen besonders schonungslos offen. Die Rituale des Erntedankfestes, die Kerzenlichter zu Allerheiligen oder Allerseelen und die Totenfeier des mexikanischen Dia de los Muertos sind Beispiele für feste und traditionelle Bräuche, die Dankbarkeit und Trauer in einer tieferen Verbindung zur Natur und zur Vergangenheit zelebrieren. Durch Innehalten und Demut erlangen wir Bewusstsein und Kompetenz für das Geschenk des Lebens.

Im November tauche ich bewusst in meine Trauer ein, denn für mich ist dies die natürliche Konsequenz eines intensiv gelebten Dankbarkeitsgefühls und zugleich ein Weg, der mich persönlich zu größerer innerer Stärke führt. „Dankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens.“
Ich finde, Fähigkeit zur Trauer ist von lyrischer Schönheit, weil sie uns erlaubt, den Schmerz des Verlustes in die Poesie des Lebens zu verwandeln, während sie gleichzeitig psychologisch von entscheidender Bedeutung ist, um unsere Emotionen zu regulieren, unser persönliches Wachstum zu fördern und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu reifen. Wenn wir Trauer verdrängen, verschieben wir den Schmerz auf einen späteren Zeitpunkt, während er im Verborgenen weitergärt und unsere psychische Gesundheit allmählich vergiftet. Dann sucht er uns in verzerrten Gestalten heim – wie die Perchten zum Jahresende.
Im Nebel des Novembers finden meine Tränen neue Wege, sanft und unaufhaltsam fließen sie auf den Boden, unsichtbar und rein. Ihr Weg verliert sich tief in meiner Höhle: Einer Höhle des weisen Bären, einer Zuflucht in den sturmfesten Wurzeln meiner Ahnen. Längst vergan-gen sind die Tiefen ungelebter Träume oder Labyrinthe, in denen die Echos meiner Vergangenheit und Ängste mich zu überwältigen drohten. Wenn die Natur sich in Höhle und Wurzelwerk schlummern legt, bleiben wir an der Oberfläche zurück. Dabei formt sich die Erscheinung unserer eigenen Höhle immer nach unserer Offenheit dem Leben gegenüber und so holt auch manch einen das Selbstmitleid ein.
Sehnsucht nach ewigem Sommer – und ewigem Leben
Die Sehnsucht nach der verpassten Chance, dem ewigen Sommer – dem ewigen Leben! Von den Pharaonen Ägyptens, über die Vampirgeschichten des 18. Jahrhunderts hinweg, bis hin zu den modernen Transhumanisten (philosophische Richtung, die die künftige evolutionäre Entwicklung des Menschen in Verbindung mit Technologie vermutet, Anm. d. Red.) unserer Tage – der Wunsch, dem schleichenden Lauf der Zeit und der eigenen Vergänglichkeit zu entkommen, ist so beständig wie der Wechsel der Gezeiten. Wenn uns die Dunkelheit in die Ecken drängt, fragen wir uns: Warum bloß ist uns die Unsterblichkeit verwehrt?
Die Antwort mag in der Essenz des Lebens selbst liegen, in der Zelle, diesem Mikrokosmos der Existenz. Unsere Zellen sind keine Marathonläufer. Sie gleichen eher den Sprintern in einem leidenschaftlichen, aber kurzen Rennen. Mit jedem Schnitt der Zellteilung, einem Akt so alltäglich und phänomenal wie ein Sonnenuntergang, verkürzen sich die Telomere, jene schützenden Endkappen unserer Chromosomen, bis schließlich, wie ein Buch ohne Umschlag, die Geschichte zum Ende kommt. Es ist, als ob das Leben selbst sagt: „Genug. Jetzt muss auch das Ende erfahren werden.“
Zwischen Verlangen und Verzicht: Preis für die Jugend
Studien an Nagetieren haben uns die Mechanismen einer längeren Lebensdauer durch reduzierte Kalorienzufuhr vorgeführt. Wie ein ewiges Fasten würde die Unsterblichkeit erscheinen. In dieser kontroversen Spannung zwischen Verzicht und Verlangen, zwischen der mathematischen Strenge der Kalorien und der mystischen Verlockung des ewigen Lebens, offenbaren sich die Grenzen des menschlichen Daseins.
So schwenkt das Pendel der wissenschaftlichen Erkenntnis auch in Richtung blutiger Experimente. In den letzten Jahren haben Experimente mit Parabiose (Vereinigung von Versuchstieren, Anm. d. Red.), insbesondere bei Mäusen, einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. In diesen Studien wurde das Kreislaufsystem junger Mäuse mit dem älterer verbunden, um den Einfluss der jungen Blutbestandteile auf den Alterungsprozess zu untersuchen. Einige der Ergebnisse deuten darauf hin, dass bestimmte Faktoren im jungen Blut tatsächlich regenerative Effekte auf Gewebe und Organe im älteren Organismus haben könnten. Verbesserungen wurden in der kognitiven Funktion, der Muskelkraft und sogar in der Leberregeneration festgestellt. Während die wissenschaftliche Gemeinschaft noch das ethische Dickicht einer potenziellen Verjüngungstherapie erkundet, führt uns die Faszination des Blutes als Lebenselixier tief in die Annalen der Geschichte, wo die Gräfin Elisabeth Báthory einen grausamen Preis für ihre Vorstellung von ewiger Jugend zahlte.
Die Legende besagt, sie habe im Blut hunderter junger Frauen gebadet, in dem Glauben, dass es ihre Jugend und Schönheit bewahren würde. Obwohl sie nie formell angeklagt wurde, fand sie sich in den Mauern ihres eigenen Schlosses gefangen wieder, wo sie im Jahr 1614 verstarb. In dieser Isolation erlebte Báthory auf eine makabre Weise ihre eigene Form der Ewigkeit, eingekerkert durch die Konsequenzen ihrer Taten.
Welches Leben würden wir wählen, wenn wir wirklich frei entscheiden könnten? Denken wir an die Erde, an ihre endlichen Ressourcen. Ein Planet, übervölkert von unsterblichen Wesen, wäre eine Welt der Konkurrenz, nicht der Kooperation. Ein ewiger Kampf um die letzten Tropfen eines bereits geleerten Kelches. Der Preis der Unsterblichkeit könnte die Zerstörung all dessen sein, was uns lieb ist.
Alter und Vergehen – Mehr Segen als Fluch
Vielleicht ist es also kein Fluch, sondern ein Segen, dass wir altern. Vielleicht gibt gerade die Vergänglichkeit unserem Leben die Süße und den Stachel, die Würze und die Tragik, die es so unvergleichlich machen. Im Angesicht unserer Sterblichkeit finden wir vielleicht das, was dem ewigen Leben am nächsten kommt: ein Leben voller Bedeutung. Wie ein Kind bestaune ich die roten Blätter, die den Boden bedecken. Als ob die Erde selbst bluten würde. Lieber Sommer, zärtlich sind meine Gedanken an dich, ein schillerndes Gemälde, das eine unerschöpfliche Wärme in die Dunkelkammern meiner Seele zaubert. Nun gilt es all diese Augenblicke auch zu entwickeln!