Granatapfelherz – Liebe für alle
Seelenschau 10/23: Frei von Vorurteilen
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Verbirgt er, was er wirklich empfindet? Im Herzen eine Frau, und dafür liebe ich ihn. Lasst uns ihn aufbrechen, wie einen Granatapfel“, singt Künstlerin Kate Bush (65) in ihrem Lied „Eat the Music“ und nimmt uns mit in die Tiefen der Seele. Mit diesen Zeilen durchbricht sie Geschlechterbarrieren und offenbart die emotionale Landschaft eines Mannes, der in seinem Kern überwiegend Frauen zugeschriebene Züge besitzt. Der Granatapfel, kunsthistorisch für Fruchtbarkeit und Geheimnis stehend, symbolisiert hier die Komplexität des menschlichen Innenlebens. Verletzlichkeit und Emotion sind nicht beschränkt – schon gar nicht auf ein Geschlecht, sondern vielmehr universelle menschliche Zustände.
In den 1970er und -80er Jahren sah sich Kate Bush mit Zensur und der Herausforderung konfrontiert, sich als Frau in einer von Männern dominierten Kunstwelt zu behaupten. Zu ihren literarischen Referenzen zählen Oscar Wilde, Shakespeare und Thomas Mann. Viele dieser einfühlsamen, bi- oder homosexuellen Literaten fanden in ihrer Kunst einen geschützten Rückzugsort. Sie haben Weltliteratur geschaffen – und mit dieser einen Raum, der ihnen sonst nicht gegeben war. Die Figuren ihrer zeitlosen Gedichte und Erzählungen spiegeln das Seelenleben der Künstler. So heißt es beispielsweise über Gustav von Aschenbach, Thomas Manns Protagonist in Tod in Venedig, dass er empfand „als sei diese Erscheinung nicht neu, als habe er sie schon lange in sich getragen, als sei sie, in seltsamer Verkleidung, immer wieder vor ihm aufgetaucht“. Plötzlich erkennt er, dass seine Seele einen Reichtum an Eindrücken barg, den er nie hatte zur Geltung bringen können, überhastet von den Anforderungen des Lebens, der beherrschenden Gedanken, der Selbstverleugnung und der vielen Arbeit.
Ebenso Theodor Fontanes Geert von Innstetten, von dem Effi Briest im gleichnamigen Roman sagt, dass „die Traurigkeit sein Lebensgefühl geworden war, und er klammerte sich daran wie an das Einzige, was er noch hatte.“ Diese Figuren, die an ihren Emotionen und inneren Konflikten zerbrechen, verdeutlichen, dass die männliche Identität keineswegs unberührt von den Einschränkungen patriarchaler Strukturen bleibt. In der faszinierenden Reise inneren Wachstums offenbart sich eine bemerkenswerte Dynamik: die erste zarte Liebe zur Mutter, geprägt von Weiblichkeit und Nähe. Später dann die Übernahme patriarchaler Strukturen. Ein scheinbar paradoxer Wandel, der zum Nachdenken einlädt. Doch hinter diesem Wechsel stecken tiefgehende psychologische und soziokulturelle Einflüsse, die unsere Identität formen.
Heute erleben wir, wie dieses jahrtausendealte System ins Wanken gerät. Diese Bewegung hat oft zur Folge, dass sich überwiegend Männer bedroht fühlen. Warum? Weil sie in einem Modell aufgewachsen sind, das ihnen eine bestimmte Rolle zuschreibt, eine Rolle, die oft mit Autorität, Kontrolle und Macht verbunden ist. Veränderung ruft Unsicherheit hervor. Es braucht einen Raum, der frei ist von traditionellen Geschlechterrollen und starren Normen und unterschiedliche, wertfreie Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt. Sexualität ist ein untrennbarer Teil unserer Identität. Sie prägt, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen. Wenn wir Menschen auf starre Biologismen reduzieren, verleugnen wir ihre vielschichtige Gestalt. Auch Hermann Hesse beschriebt in seinem Steppenwolf diese Menge der Herzen in einer Brust aufs Vortrefflichste. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen, das sich ständig weiterentwickelt. Tradition und Religion vermitteln historische Kontinuität und kulturelle Identität. Doch müssen sie selbst stets im Fluss sein, sich behaupten und dem Menschen dienen – nicht umgekehrt. Ihr Wert liegt letzten Endes darin, dass sie uns lehren können, wie wir als Gesellschaft gewachsen sind, und so werden sie selbst zu Zeugen der Komplexität unserer Menschwerdung.
Als Heilpraktiker und Lehrer beobachte ich mit zunehmender Besorgnis, wie Menschen noch immer und zunehmend wieder massiv unter Diskriminierung, Mobbing und rigiden, aufoktroyierten Konventio-nen zu Grunde gehen. Eine alarmierend hohe Dunkelziffer an Individuen erfährt Stigmatisierung – sei es im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Identität, ihrem Geschlecht oder der gläsernen Decke im männlich dominierten Business. Ständige Wertungen, Erwartungen und Forderungen machen krank oder führen schlimmstenfalls in den Suizid. Das belegen Studien.
Die aktuellen Erörterungen und der Kampf für freie sexuelle Orientierung sind daher alles andere als eine Übersexualisierung der Ge-sellschaft. Homosexuelle, bisexuelle und asexuelle Menschen streben lediglich nach der Freiheit, authentisch leben zu können, ohne mit Vorurteilen konfrontiert zu werden und ohne auf ihre sexuelle Präferenz als alleiniges Persönlichkeitsmerkmal reduziert zu werden.
Im scharfen Gegensatz dazu thront das Patriarchat, das in seiner exzessiven Fixierung auf Sexualität in Form von allgegenwärtiger Potenz, Dominanz und Status, immer und überall Verrat und Gefahr wittert. Es degradiert Frauen sowie Männer gleichermaßen zu Objekten und verkehrt die Liebesbeziehung über Jahrtausende hinweg zur reinen Zweckgemeinschaft oder zum Kriegsschauplatz verschiedenster Neurosen. Unleugbare Auswüchse dessen sind die Ganzkörperverschleierung, die Verherrlichung von Jungfräulichkeit, Sklaverei, Beschneidung, Zölibat, Zwangsprostitution oder die systematische Ermordung abertausender Menschen, die anders denken und leben möchten. Sinnlichkeit, Liebe und Körperlichkeit sollen als „Pulverfässer menschlichen Potenzials“ beherrscht werden.
Die Angst konservativer Kräfte vor Symbolen wie dem Regenbogen oder der Aufklärung über die Vielfalt menschlicher Liebe verkennt, dass die Norm falsch genormt wurde und noch immer wird. In einer digitalen Welt ist frühe Aufklärung wichtiger denn je. Resilienz manifestiert sich durch die Kultivierung von Selbstliebe sowie eine gesun-de Identitätsentwicklung und positive Anerkennung der eigenen Sexualität. Dieser Chance wurden wir viel zu lange beraubt.
In meiner Praxis begegne ich Menschen mit gebrochenen Herzen und Willen, geplagt von Selbsthass und Scham, beherrscht von ahnungsloser Wut. Im ständigen Krieg mit ihrem Körper und den eigenen Bedürfnissen. Für Momente der Rührung, der Reflexion, tiefer Empfindung und offenem Staunen längst nicht mehr zugänglich, denn das war ihre Überlebensstrategie. Mauern versprechen Schutz, aber bieten keine Flexibilität.
So ist die Selbstbefähigung unter dem Regenbogen ein Abschied vom Patriarchatsprivileg und zugleich eine inklusive Chance. Antike Erzählungen lehren uns doch, dass diejenigen, die beide Pole leben und erforschen, der Erkenntnis, der Transzendenz am nächsten stehen. Die moderne Gesellschaft erlebt langsam einen Wandel. Wenn Wunden heilen dürfen, schreitet die Transformation der aufstrebenden Generation hin zu freien Beziehungen auf Augenhöhe unaufhaltsam voran.
(Thomas Lambert Schöberl,
Jahrgang 1989, ist Heilpraktiker, Theologe, Experte für Naturheil-kunde sowie Musik- und Kunst-lehrer. In München betreibt er eine Praxis für ganzheitliche Heilmethoden. In seinen Seminaren und Workshops bilden die Themen Natur, Kreativität und Ganzheitlichkeit den Schwerpunkt.)