Mystik in jedem Detail
Seelenschau 09/23: Naturbetrachtung
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Die Septembertage, reich an Früchten und schon durchzogen vom Duft fallender Blätter, führen uns zu einem tieferen Verständnis der Schöpfungserzählung. Wir begegnen ihr nicht als einer Erklärung der materiellen Entstehung der Welt, sondern als einer Dichtung, die den ursprünglichen Atem des Lebens besingt. In dieser erdigen, aromatischen Jahreszeit sind wir selbst Zeugen der unaufhaltsamen Übergänge des Lebens. Im geheimnisvollen Waldboden, dem sich wandelnden Gewebe des Lebens, erkennen wir die eindrucksvolle Evolution der Arten. Forschung, Wunder, Staunen, Mystik, Leben, Tod, Heilung und Wiedergeburt gehen hier Hand in Hand.
Die Sonne verliert behutsam ihre Strahlkraft, nebelige Schleier ziehen auf, und ein kühler Tau legt sich über das Land. Die Vollkommenheit des Lebenszyklus offenbart sich in all seiner majestätischen Schönheit und Brutalität. Weit öffne ich meine Arme, atme tief den Duft der Bäume ein, lausche dem letzten Summen und Brummen im schlummernden Wald und erkenne, dass ich nichts sonst in der Welt brauche, um gehalten zu sein.
Die Wissenschaft fragt nach dem „Wie“. Viele Gläubige fragen nach dem „Warum.“ Und ja, ich finde, wie wir mit der zweiten Frage umgehen, sagt viel über uns aus. Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) entgegnet: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern, dass sie ist.“ Die Erntezeit lädt uns dazu ein, unsere Herzen mit Dankbarkeit zu erfüllen, für das was ist. Es ist eine Zeit des Innehaltens und der Wertschätzung gegenüber der Nahrung, die uns sättigt, und für die Hände, die sie sorgsam angebaut haben.
Der goldene Spätsommer hält einige der mächtigsten Heilkräuter für uns bereit. Die Goldrute, das strahlende Gelb des Himmels, reinigt und stärkt unsere inneren Flüsse. Schachtelhalm kräftigt Haar, Nägel und Bindegewebe, während Herzgespann sanft unser ruheloses Herz umarmt. Bitterer Wermut, der Tanz der Gegensätze, beruhigt den Magen und klärt den Geist. Und der schwarze Holunder, ein schützender Schatten in der warmen Spätsommerluft, stärkt unser Immunsystem und lindert Erkältungsbeschwerden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Schöpfung ist und war für die Klostermedizin von großer Bedeutung, da sie den Ursprung und die Verbundenheit allen Lebens mit Gott betont. Berühmte Persönlichkeiten wie Hildegard von Bingen und Pfarrer Kneipp haben gezeigt, dass die Heilkunde nicht nur den Körper, sondern auch die Seele berücksichtigen muss. Durch die Anerkennung einer Seele, entsteht automatisch ein weiter Blick, der über den Begriff der Psyche hin- ausreicht und auch diskutiert werden darf. Die Klosterheilkunde und die Volksmedizin, schlagen in ihrer Intention eine Brücke zwischen der Materie und dem Spirituellen, bei der die heilende Kraft der Natur immer auch als eine Referenz zum Schöpfungsgedanken verstanden wird – und zwar ohne Esoterik oder Magie, sondern mit Neugier und Forscherdrang.
Traumzeit – Verbundenheit zwischen allem, was ist
Geformt von unzähligen Stimmen über Generationen hinweg. Geschrieben und umgeschrieben, erzählt und wiedererzählt, weben die Erzählungen von der Schöpfung das komplexe Gebilde der verschiedenen Kulturen und Religionen. Schöpfungsmythen stiften Identität, verbinden uns mit der Natur und strukturieren Zeit und Raum. So finden wir im Koran, in der jüdischen Bibel die Erzählung der Schöpfung, in der Gott die Welt in sechs Tagen erschuf und am siebten Tag ruhte. Ein weiterer berühmter Schöpfungsmythos stammt von den Aborigines, den Ureinwohnern Australiens. Dieser Mythos wird als „Traumzeit“ bezeichnet und erzählt von der Erschaffung der Welt und allem, was darin existiert. In der Traumzeit wird davon gesprochen, dass die Welt und ihre Landschaften, Tiere, Pflanzen und Menschen von den Ahnenwesen, den sogenannten „Dreamtime-Ancestors“, erschaffen wurden. Diese Ahnenwesen wanderten während der Traumzeit durch das Land und formten es durch ihre Handlungen und Lieder. Der Mythos erzählt von den einzelnen Orten und Landschaften, die von ebenjenen Ahnenwesen gestaltet wurden. Er berichtet beispielsweise davon, wie eine Gebirgskette und ein Flussbett entstand. Diese Orte werden von den Aborigines als heilige Stätten verehrt und sind Teil ihrer spirituellen Praxis. Die Traumzeit-Erzählungen dienen den Aborigines als Grundlage für ihre kulturelle Identität und ihre Verbindung zur Natur. Sie vermitteln Werte wie Respekt, Verantwortung und Harmonie mit der Umwelt. Die Erzählungen werden oft durch Lieder, Tänze und Kunstwerke weitergegeben und sind ein zentraler Bestandteil der aboriginesischen Kultur. Der Schöpfungsmythos der Aborigines verdeutlicht, wie eng verwoben ihre Identität, ihre Spiritualität und ihre Beziehung zur Natur sind. Durch die Mythen der Traumzeit wird nicht nur die Entstehung der Welt erklärt, sondern auch die Beziehung zwischen den Menschen, den Tieren, den Pflanzen und dem Land. Die Aborigines sehen sich selbst als Teil eines größeren Ganzen und sind bestrebt, im Einklang mit dem zu leben, was sie umgibt.
Wir entscheiden uns täglich neu dafür, wer wir sein wollen
Und dann ist da noch die bekannte biblische Erzählung von Adam und Eva, die unzählige Parallelen zu Vorstellungen an- deren Kulturen aufweist. Hier wird die Erschaffung der Welt nicht systematisch beschrieben – sie ist bereits vorhanden. Es ist eine Geschichte, in der der Schöpfer als Gärtner auftritt, der den Menschen aus der Erde formt und ihm den Atem des Lebens einhaucht. Und außerdem eine Geschichte von Autonomie, denn wir Menschen verfügen über die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben können. So können entscheiden wir uns täglich neu für das Gute oder aber für Handlungen, die zur Zerstörung der Natur, zur Ausbeutung anderer Menschen oder zur Unterdrückung von Minderheiten führen oder beitragen.
Doch was für viele von uns dann über die elementare Wahrheit eines Mythos hinaus stets drängend bleibt, ist ein „Beweis“. So beschäftigt der Gottesbeweis als grundlegende Frage seit Jahrhunderten Philosophen, Theologen und Wissenschaftler. Verschiedene Beweisführungen wurden aufgestellt, um die Existenz eines höheren Wesens auf logische und rationale Weise zu begründen. Einer der bekanntesten ist der ontologische Beweis, der auf den Philosophen Anselm von Canterbury (1033 – 1009) zurückgeht. Er argumentierte, dass Gott als das vollkommene Wesen notwendigerweise existieren müsse, da ein vollkommenes Wesen, das nicht existiert, nicht vollkommen wäre. Ein weiterer prominenter Gottesbeweis ist der kosmologische Beweis, der unter anderem von Thomas von Aquin (1225 – 1274) entwickelt wurde. Er argumentierte, dass es einen ersten unverursachten Ursprung des Universums geben müsse, der als Gott betrachtet werden kann. Der teleologische Beweis, argumentiert, dass die Ordnung und Komplexität der Natur auf eine intelligente Gestaltung durch einen Schöpfer hinweisen.
Heute wissen wir: Die Vielschichtigkeit des Gotteskonzepts lässt sich nicht allein durch rationale Argumentation erfassen. Sie erfordert – wie alles im Leben – eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die auch, oder vor allem, auf Herz, Verstand und Intuition vertraut.