Aus dem Ei gepellt: Ostern als Mythos
Seelenschau 04/23: Salz und Licht
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Eine der Geschichten beginnt mit einem Stein, der plötzlich weggewälzt wurde – mit Engeln als Boten und Frauen als Zeugen. In unserem Leben müssen immer wieder Steine weggerollt werden. Und der Blick ins Dunkel fordert unser inneres Leuchten. Die Osterzeit symbolisiert keinen bloßen Neuanfang, sondern eine neue Lebensqualität. Ein Leben in unbedingter Zuversicht. Es ist eine Metapher für die Kraft, die in uns allen schlummert und im Osterfeuer Funken schlägt.
Die Mystik dieser Zeit reicht viel weiter zurück als ins frühe Christentum. Auf dieser Spurensuche folgen wir dem Bären aus dem Wurzelreich der Holle zurück ins Tal – jener Urmutter aller Naturgottheiten, deren Geist bis heute in der Pflanzenheilkunde, in unseren Märchen und Träumen präsent ist und dort seine heilsamen, gar magischen Fäden spinnt. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer tiefen Seelenschau belohnt. Der genaue Ursprung des Osterfestes bleibt umstritten. Die Felszeichnungen der Nordgermanen zeigen eine garstige Wintergöttin auf Skiern fahrend mit langen Hasenohren. Dieser uralten Erzählung zu Folge legt sie das Ei, das der Frühlingsgöttin Ostara oder Eostre feierlich gewidmet wurde. Ostara wurde oft mit einem Ei oder einem Wagen, gezogen von Hasen, abgebildet. Der paarungsfreudige Hase und das lebensspendende Ei sind also Symbole für Fruchtbarkeit und Schöpfung. „Ostara“ leitet sich vom Osten ab. Bis heute ist die universale Gebetsrichtung nahezu aller Völker der Osten, weil das Licht der Sonne, wie nichts sonst, unser Leben prägt. Im Frühling, wenn die Hühner besonders fleißig Eier legten, war es im ganzen indoeuropäischen Raum üblich, frische Eier mit Schafgarbe oder neu erwachten Gräsern zu umwickeln und in Farbe zu tauchen. Vom Hasen versteckt, warten die Ostereier nun darauf, von den Kindern gefunden zu werden. Im Mittelalter wurden die Eier während der Fastenzeit durch Kochen haltbar gemacht. Um eine Verwechslung mit den frischen Eiern auszuschließen, färbte man sie ein. Während der Karwoche gelegte Eier galten als besonders heilig.
Das Ei ist Symbol und Powerfood
In ihrer visionären Mystik verband die Heilerin und Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) das Ei mit dem Konzept der harmonischen Balance, indem sie darauf hinwies, dass das Ei sowohl das weibliche als auch das männliche Prinzip in sich vereint. Für sie symbolisierte es die Einheit von Körper, Geist und Seele und zeigte, wie alles miteinander verbunden ist. Selbstverständlich spielt das Hühnerei heute noch in der Naturheilkunde eine wichtige Rolle als natürliches Lebensmittel zur Stärkung. Hinter der zerbrechlichen Schale schlummern A- und B-Vitamine, Eiweiß, Selen, Phosphor und Cholesterin, die für eine gesunde Ernährung und Funktion des Körpers unerlässlich sind. Folglich können Hühnereier bei der Behandlung von Anämie, Müdigkeit und Erschöpfung eingesetzt werden. Doch zurück zum Frühlingserwachen.
Eines Tages, als Persephone noch ein junges Mädchen war, entführte der Gott der Unterwelt, Hades, sie in sein Reich. Ihre Mutter Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit und des Wachstums, war außer sich vor Sorge und Trauer. Sie suchte verzweifelt nach ihrer Tochter und setzte ihre gesamte Kraft ein, um sie zurückzubringen. Während Demeter trauerte, kam es zu einer verheerenden Dürre auf Erden. Die Felder waren fruchtlos, die Pflanzen verdorrten und die Tiere verhungerten. Die Menschen beteten um Demeters Gnade, als Zeus erkannte, dass er etwas unternehmen musste. So schickte er Hermes, den Gott des Handels zu Hades, um Persephone zurückzubringen. Hades willigte ein, unter der Bedingung, dass Persephone bis dahin keine einzige Speise in der Unterwelt gegessen haben dürfe. Doch da hatte Persephone bereits hungrig im Garten vom Apfel genascht. Askalaphos, der Gärtner des Hades, hatte sie dabei beobachtet. Der Granatapfel trug zwölf Kerne in sich, vier davon hatte Persephone gegessen. Diese vier Kerne besiegelten ihr Schicksal, dass sie auf immer vier Monate des Jahres in der Unterwelt verbringen müsse. Jedes Jahr aufs Neue, dann wenn Persephone in der Unterwelt ist, zieht mit Demeters Trauer der Winter übers Land. Kehrt sie zurück, dämmert der Frühling. Diese alten Erzählungen dienten den Menschen als breiter Fundus an weisen Bewältigungs- und Deutungsstrategien außerhalb der eigenen Einflussbereiche. Mangelt es uns an archetypischen Geschichten, werden wir zum Fixstern unseres Kosmos – dann bleibt oftmals nur das bloße Streben nach Äußerlichkeiten und menschgemachten Maßstäben. Ist es doch der Mensch, der so oft keine Gnade kennt.
Vom Haselzweig und Osterwasser
Im Frühling ziehen die Kühe wieder auf die Weide, im Osterfeuer wird alter Unrat vernichtet und in Indien brennt die Winterhexe „Holi“ im Reigen kunterbunter Farbexplosionen. Die Gartensaison beginnt und im sogenannten Karfreitaggarten werden die ersten Erbsen gesteckt. Doch nicht nur das Grün, auch das Osterwasser birgt nun eine einzigartige Kraft in sich. Am Ostermorgen geschöpft, so sagt man, bleibt es das ganze Jahr über frisch. Auch der Palmsonntag, der uns an den Einzug Jesu in Jerusalem erinnert, hat naturreligiöse Entsprechungen. Zum Palmsonntag werden Zweige verschiedenster Art mit Weihwasser gesegnet. Anschließend finden sie ihren Platz in der Stube, hinter dem Kruzifix. Im Heidentum wurden mit Haselästen, die ein aus Holunder geflochtenes Radkreuz schmückte, die Äcker gesegnet. Die Hasel gilt seit jeher als ein sehr potentes Heilmittel bei Durchfall und Harnwegsinfekten. Aufgrund des Klimawandels blüht dieser sagenumwobene Busch bereits Anfang Januar. Sie diente traditionellen Heilern als Kraftort und Portal zu den Seelen der Ahnen.
Jetzt, wenn Väterchen Frost und seine Tochter Schneeflöckchen mit einem letzten Gruß die Wiesen küssen, sind Löwenzahn, Vogelmiere und Brennnessel längst schon erntereif. So früh im Jahr schmecken diese Pionierpflanzen mild und zart. Heute als Unkräuter verpönt, deckten sie in alten Zeiten den Vitamin- Bedarf der skorbutischen Winterschwere und wirkten gleichzeitig entgiftend über Leber und Nieren. Nutzen Sie die frische Kraft der Ostertage und ernten Sie in Garten, Wald und Flur! Versorgen und segnen Sie sich und Ihre Liebsten mit den Kräften der Natur!
Ostern als religiöser Blick nach vorn
Zu Ostern geht es also nicht um Weltverbesserei. Glaube und Spiritualität sollen keine Weltflucht sein, sondern uns hineinführen ins Geschehen, mitten in die Welt, in die Erde, der wir entstammen. Aus christlicher Perspektive wollte Jesus, dass wir ihn und seine Liebe in der Welt repräsentieren. Er sagte, wir sind Licht und Salz (Mat 5, 13-16). Das Einzige, was die Finsternis vertreibt, ist Licht, und Salz gibt der Nahrung Würze, macht sie haltbar und reinigt Wunden. Das Bibelzitat „Eine Stadt, die auf einem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben“ unterstreicht diesen Gedanken. Es geht um das Erkennen, dass Entwicklung immer nur in Beziehung mit unserer Umwelt geschieht – unserem Nächsten, der Natur, der Kultur, mit dem, was uns menschlich macht. Dazu braucht es die weisen Geschichten unserer Ahnen, ihre wertschätzenden Feste und Traditionen, alte und neue tiefe Symbole und kollektive Erlebnishorizonte. Im Frühling, dann wenn der Bär aus dem Uterus der Zemyna erwacht, wenn Persephone ihrem Gatten entflieht und der große Fels das Grab freigibt, gilt es, sich nicht mehr umzudrehen. „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“, fragten die Engel (Lk 24,5). Auf, auf – das Alte hat nun keine Macht mehr über uns. In der Osternacht mündet der Fluss des Lebens, mit all seinen Leiden und Nöten, in einem Meer der Freude.
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Mankau, Murnau a. Staffelsee 2021.