Aschekreuz und Funkenfangen
Seelenschau 02/23: Amaranthine
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
In der winterlichen Stille klingt in mir eines der meistzitierten Lieder des Jahres 2022 nach: „Wir wollen einander doch nicht verletzen. Aber sieh, wie tief die Kugel in der Wunde liegt. Wir reißen andere entzwei und bemerken es nicht einmal. Oh, es donnert mächtig, hier, in unseren Herzen. Erstaunlich wie viel Hass wir für diejenigen empfinden, die wir doch eigentlich lieben sollten. Sag du es – von uns ist doch keiner wichtiger als der andere? Lass uns die Plätze tauschen – vielleicht spielt Gott ja mit?“ (frei nach Kate Bush: „A deal with god“) Zu Aschermittwoch scheint es uns möglich, die Verkettung zwischen Hass und Liebe zu sprengen – aber nur, wenn wir verstehen, dass mit Gott kein Deal zu schließen ist. Warum Liebe Wunden heilt, sie aber nicht verhindert, davon erzählt uns auch die Ostergeschichte.
Am Aschermittwoch beginnt die 40-tägige Wüstenzeit des Fastens. In der Wüste sind wir vom Gewusel und den Ablenkungen der Oase entrückt, auf uns selbst zurückgeworfen. Sie ist ein Ort der Gegensätze. Am Tag herrscht erbarmungslose Hitze und nachts, unter dem unendlichen wolkenlosen Sternenzelt, bittere Kälte. Doch siehe da, Dürre und Lebensfeindlichkeit verwandeln sich selbst noch nach Jahren bereits beim kleinsten Regenguss in überschäumende Hoffnung und Schönheit. Ich finde, dass auch der Mensch eine Wüste ist – weit, voller kostbarer Ressourcen, unterirdischer Seen, unsichtbarer Blüten, gnaden- und doch selbstlos. Stets durstig – aber nie verloren. In der Naturheilkunde ist das Fasten eine meiner liebsten Therapieformen, doch schlummert in dieser alten Tradition viel mehr als der Verzicht auf die kleinen, alltäglichen „Süchte“. Die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern ist ein Schlüssel zu echter Freiheit, Selbstwirksamkeit und Heilung – dazu braucht es keinen Mut, sondern Willen. Einen Willen, der frei ist.
Jeder Neuanfang braucht ein Bekenntnis
Wenn unsere Tage traurig sind und das Leben ohne Salz, dann gilt jetzt mehr als zuvor: „Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,5). Im Erleben von Krankheit, Tod und Schmerzen zerreißen die Menschen im Alten Testament ihre Kleider und bestreuen ihr Haupt mit Asche. Unser Ego und unsere Doppelmoral scheinen heute so groß, dass wir kraftvolle Begriffe wie Buße, Sünde, Schuld, Vergebung, Auferstehung nicht mehr nötig haben und oft als eine Anmaßung frommer Fundamentalisten auffassen. Für mich hingegen sind sie wichtige Bestandteile eines ganzheitlichen Menschenbildes und ein Katalysator in jeder naturheilkundlichen Seelenschau. Im Buch Joel (2,13) steht: „Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider, und kehrt um.“ Das Zerreißen abgetragener Kleider, alter Eitelkeiten und fremder Federn – das Bad in der Asche – wird nur dann zur Metanoia (= spirituelle Bekehrung), wenn es sich um eine echte Innenschau handelt, wenn wir bereit sind, Zeugnis über unsere Taten und Motive – unsere Menschlichkeit – abzulegen. Weil wir mit dem Leben, der Natur, dem Göttlichen (egal wie wir es nennen wollen) nicht verhandeln können, sind echte Neuanfänge nie nachhaltig, solange wir uns nicht ganz bewusst und völlig ungeschminkt für sie entscheiden. Wandern wir in die Wüste aus Selbstmitleid, um uns abzuhärten, um gesund zu werden oder bloß, um anderen und uns selbst zu beweisen, dass wir die 40 Tage eisern überstehen, dann werden wir nicht nur der Schönheit der Wüste nicht gerecht. Auch unserer eigenen Schönheit öffnen wir dann nicht den Blick. Wir übersehen, dass wir bereits gerechtfertigt sind. Denn: Wo Liebe waltet, gibt es keinen Machtwillen.
Fasten: die Normalität durchbrechen
Nein, Fastenzeit ist keine Sonderleistung. Es geht nicht darum, etwas Besonderes zu tun, sondern darum, die sogenannte Normalität zu durchbrechen. Es geht darum, den gewöhnlichen Geiz, die alltäglichen Beziehungen, die mitunter blinden Vorurteile, das übliche Wegschauen, die übliche Haltung zu hinterfragen. Es gilt, Stellung zu beziehen zu dem, was normal, aber nicht gut ist. Die Vorstellung, man könne durch gute Taten oder frommes Verhalten Gott beeinflussen, ist nicht nur naiv, sondern macht ihn klein und sehr menschlich.
Mensch zu sein, bedeutet eben auch, bedürftig sein. Begrenzt. Schwach. Traurig. Gierig. Blind. Manipulativ. In solch einem Eingeständnis entpuppt sich die menschliche Natur als Amaranthine (eine wunderschöne Wüstenblume, die jahrelang ohne Wasser ausharren kann, bevor sie ganz unerwartet aufblüht). Der Ursprung von Hass und Gewalt liegt nämlich auch in unserer Besserwisserei verborgen. In der Überzeugung, dass unser Handeln und Entscheiden der Weisheit letzter Schluss seien, verdrängen wir, dass die einzige Übereinkunft mit unseren Mitmenschen, Nächsten und Liebsten nur die sein kann, dass wir die Grundhaltung des „Nicht-Wissens“ teilen. Zum Frieden reicht hingegen oft schon das Signal aus, dass man den anderen sieht, dass man Wertschätzung ausstrahlt – auch im Unverständnis.
Zu Aschermittwoch will ich also neue Beziehungen weben, neue Bande knüpfen, meinen Mantel weiterreichen. Das Vergangene will ich einäschern und zu Grabe tragen. Wenn Scham und Angst eingeschmolzen sind, verlieren unsere Geheimnisse an Macht über uns – dann rollt, wie von Geisterhand, ein großer Fels vom totgeglaubten Herzen hinfort. In meinem Bett aus Asche will ich neue Funken fangen – ein Feuer schüren, das anderen und mir selbst ein Licht im Dunkel ist. Von Berggipfeln hinab will ich in die Täler und Schluchten rufen, singen und leuchten. Die große Frage ist also, ob wir wollen, dass unser Leben einer Fackel gleicht oder ob wir aus falscher Demut und Bequemlichkeit unser Licht stets unter den Scheffel stellen. Nein, es sind nicht die gebrochenen Herzen, die versteinern.

Das Leben im Licht der Liebe deuten
Leben scheint ohne Leid nicht möglich zu sein, weder aus theologischer noch aus naturwissenschaftlicher Sicht. So bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung die schlummernden Funken im unendlichen Zyklus der Asche. Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst. Diese Worte atmen einen mehr als 1000 Jahre alten Geist und für viele klingt das antiquiert. Aus allen Plänen und Wünschen der Menschen, aus all seiner Macht bleibt am Ende Staub, heißt es in Psalm 146,4. Alles Leben auf Erden wird am Ende zu Staub, sagt die jüdische Weisheitslehre. Für mich steckt in diesen Mahnungen zur Achtsam- und Wachsamkeit aber auch ein Schlüssel zu mehr Kohärenz, denn am Aschermittwoch verwandeln sich im Aschekreuz auf meiner Stirn Urknall und Schöpfungsgedanke, Menschenwürde und Gerechtigkeit, Wille und Verantwortung, Tod und Geburt, Furcht und Freude, Liebe und Leid zu einer direkten Auf- und Herausforderung an mich selbst. Ich kann selbst aktiv werden, ohne ob meiner beschränkten Möglichkeiten zu resignieren. Die Osterzeit erspart uns keine Niederlage und erst recht nicht den physischen Tod. Ihre Kraft ist die Paradoxie, die das Staubkorn der Naturwissenschaft zum göttlichen Urfunken des Kosmos erklärt. Die kommende Osterzeit erzählt davon, dass es keinen Deal mit Gott braucht, damit wir zueinander finden, denn Gott hat am Karfreitag bereits den Platz mit uns Menschen getauscht. Weil er, der wahre Richter, vom Menschen gerichtet, unsere Strafe auf sich genommen hat, sind wir frei. Diese Freiheit kann uns zwar kein sicheres, statisches und stabiles Leben versprechen, aber eines in Liebe, denn sie „erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf“ (1 Kor 13,7f).