Für eine bessere Welt: die Zukunft gestalten
Seelenschau 1/23: Visionen
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, sagte Altkanzler Helmut Schmidt 1980 in einem Interview mit dem Spiegel. Ich hingegen würde mir Scharen von Menschen wünschen, die deshalb einen Arzt aufsuchen müssen. Doch Visionäre wurden von Rationalisten verdrängt und Rationalisten seit Kurzem von Pragmatikern. Im Schlaglicht der Krisen tönt es nach Althergebrachtem. Orientierungslos oder starr vor Schreck? Weder Panik noch Verdrängung bringen Rettung. Keine Frage: Angst verhindert Fortschritt. Weil aber die Entwicklung neuer Glaubenssätze, alternativer Handlungsoptionen und frischer Visionen stets wichtiger Bestandteil der Psychotherapie ist, teilen sich Reaktionäre und Klima-Apokalyptiker nun ein Krankenbett. Nur Mut – ich lade zur Gruppentherapie!

„Wir haben einen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihm zu huldigen.“ (Mt 2,2) Im Matthäus-Evangelium folgen Weise aus dem Morgenland einem neu entdeckten Stern am Himmel. In heller Vorfreude machen sie sich auf eine lange und zu jener Zeit gefährliche Reise, um dem Himmelsphänomen auf den Grund zu gehen. Allgegenwärtig ist die Ungewissheit. Doch mit Hoffnung und Mut im Gepäck teilen sie eine Vision, die weit über ihren eigenen Wirkungskreis hinausreicht. Im Katholizismus ziehen am Dreikönigstag Kinder um die Häuser. Sie verkörpern die Neugier und die Zuversicht der drei Sterndeuter, während in der evangelischen Kirche der sechste Januar als „Epiphanias“ die Gläubigen an die Erscheinung Gottes in Form seines Sohnes erinnert. Was ihnen gemein ist: die Prophezeiung, der Neubeginn, die große Vision einer besseren Welt.
Die Heilerin und Theologin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) vergleicht den Januar mit der Kindheit. Geht es nach ihr, ist der erste Monat im Jahr alles andere als eine triste und graue Zeit. In „Welt und Mensch“ schreibt sie: „So wirkt die Seele voller Freude in der Kindheit des Menschen, jener Zeit, die noch keine Arglist kennt und die fleischliche Lust nicht spürt. Noch wird sie ja nicht genötigt, wider die eigene Natur zu handeln. In solcher Kinderzeit, deren Wunschleben so einfältig und unschuldig erscheint, zeigt sich die Seele in ihrer ganzen Kraft.“
Ganzheitliches Wohlbefinden – der Mensch als Teil der Natur
Hildegard von Bingen denkt den Energierhythmus des Menschen in Analogie zum Rhythmus der Natur. Der Mensch ist Teil der Natur und schwingt mit ihr. Der Jahreswechsel ist ein Neuanfang. Es gilt: Nichts wie hinaus an die frische Luft – egal bei welchem Wetter! Gewürze wie Zimt, Nelke, Kardamom, Ingwer, Pfeffer, Anis, Fenchel, Süßholz, eine Wärmflasche und dicke Socken wärmen uns nach ausladenden Wanderungen. Schenken Sie sich und Ihren Liebsten Geborgenheit, Schutz, Wärme und Gemütlichkeit. Um diese Gefühle zu kultivieren, braucht es aber die Natur als Gegenüber. Holen Sie sich Naturschmuck in Ihre Wohnung, nutzen Sie Kerzen und natürliche Düfte als Stimmungsaufheller und achten Sie auf Ihren Vitamin-D-Spiegel. Widmen Sie sich Ihrem inneren Kind und geben Sie ihm jene Fürsorge, die es doch so dringend braucht.
Bleiben wir in der Analogie zwischen Mensch und Natur. Visionen wollen geboren werden. Dazu braucht es reife, samenschwere Früchte im Spätsommer und vertrauensvolle Empfänglichkeit im Herbst. Visionen fallen nicht vom Himmel – auch nicht bei Gott. Was uns als leuchtender Stern den Weg weist, ging lange schwanger, irrte durch kalte und stockdunkle Nächte und wurde unter Schmerz und Euphorie mit sämtlichen Körpersäften hinaus in die Welt gepresst. Die Schlichtheit dieser großen Vision hätte wohl selbst dem Altkanzler Schmidt den Atem für den nächsten tiefen Zug an der Zigarette geraubt. In der Vision vom sechsten Januar geht es darum, dass auch wir neu geboren werden als „Kinder Gottes“. Die Metapher von den „Gotteskindern“ ist vor allem ein Beziehungsbegriff. Dieser eröffnet uns einen Verstehenshorizont, der an die unmittelbare Erfahrung jedes Einzelnen anknüpft und sich zugleich auf das Verhältnis von Gott, Mensch und der Welt ausbreitet.
Vorwärts, den Blick auf den Fixstern gerichtet
Erinnern Sie sich? Die Weihnachtsgeschichte erzählt uns „Fürchtet euch nicht!“ und „Freuet euch!“. Ein maßvoller und demütiger Appell zugleich. Weihnachten und Neujahr fordern uns auf, den ungehörten und unerhörten Stimmen zu lauschen. Dem Jauchzen der verachteten Hirten, dem Klopfen eines migrantischen Ehepaars, den klugen Träumen der Weisen, dem Appell der Engel und dem Geburtsschrei eines Kindes. Dem Januar wohnt „aller Anfang inne“. Und ja, mit alten Vorsätzen fällt er schwer, aber mit Wünschen und Visio- nen wohnt ihm „ein Zauber inne“ – eine Kraft unabhängig vom körperlichen Alter.
Mein Vorschlag wäre, dass wir alle für das neue Jahr einen Wunschzettel schreiben. Weg mit den To-do-Listen und der Reformulierung demotivierender Vorsätze. Interviewen Sie Ihr inneres Kind. Welches Bild von der Zukunft, der Gesellschaft und dem Leben malt es Ihnen? Welchen Beitrag können Sie als Erwachsener zu dessen Verwirklichung leisten?
Das Kind ist die Vision. Das muss so sein, denn der Lauf der Natur ist stets vorwärtsgewandt. Es liegt aber an uns Erwachsenen, diese Visionen zu fördern, zu gebären, zu hüten und zu pflegen. Lebt man in ständiger Furcht vor der eigenen Begrenztheit, koppelt man sich vom Potenzial seiner Seelenkräfte ab. Man tritt auf der Stelle und höhlt sich Stück für Stück sein eigenes Grab aus. Man arbeitet gegen das Leben – ohne zu wurzeln und ohne einen Blick zum Fixstern.
Wer zu alt ist, um sich zu erinnern, wird dann auf heimtückische Weise vom psychologischen „Übertragungseffekt“ entlarvt – genau dann, wenn ihn seine Ablehnung gegenüber festgeklebten Klimaaktivisten zum Brodeln bringt. Ja, Angst wird vererbt, Lebensbewältigungsstrategien werden vorgelebt und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und so erscheint die graue, altkluge Panikmache der „Fridays-for-Future“-Generation als Heimweh nach einer Zukunft, die ihr die Erwachsenen verwehren. Wer im Gruppengespräch erkennt, dass Jugend im Geiste das Einzige ist, was zu besitzen sich lohnt, verlässt die Station als Visionär.