Das Fest der Hoffnung: Fürchtet euch nicht!
Seelenschau 12/22: Ein Dieb in der Nacht
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Eine düstere Prophezeiung, ein auserwähltes Kind, ein fantastisches Himmelsphänomen. Martyrium und kosmogonischer Neuanfang. Was wie das Rezept für ein Harry-Potter-Spin-off klingt, ist in Wirklichkeit der Stoff, aus dem die Weihnacht ist. Ja, Weihnachten ist die Erfüllung einer alttestamentlichen Prophezeiung, deren Konsequenz die Apokalypse ist. Mit Fasten und Gebet bereiteten sich die Christen im Advent auf das neue Jerusalem vor. Die Weihnacht erleuchtet uns nicht in der bloßen Lobpreisung einer Lichtgestalt, sondern vor allem durch die Bewusstmachung der Dunkelheit. Den finsteren Wurzeln der Weihnacht sind wir in diesem Jahr besonders dicht auf der Spur.

„Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll“ (Lk 2,10), erklären die Engel der himmlischen Heerscharen den Hirten auf den nächtlichen Feldern. Eben dieser Gruppe von Menschen brachten die Engel des Herrn die frohe Kunde: „Euch ist der Heiland geboren … freuet euch, freuet euch!“ Die Hirten verließen daraufhin ihre Herden, um das Kindlein zu ehren, das in einem Stall, als Flüchtling, inmitten von Tieren geboren worden war. Und dann, so erzählt uns der Evangelist Lukas, verbreiteten die Hirten jene frohe Botschaft unter den Menschen. Alle wunderten sich, waren es doch Hirten, ärmliche und von der Gesellschaft verachtete Menschen, die ihnen die Kunde vom Messias überbrachten. Aber die Hirten wurden verwandelt – sie wurden zu Engeln, denn das Wort „Engel“ (altgr. ángelos) bedeutet „Bote“. Äußerlich blieben sie Hirten, doch in ihrem Inneren wurden sie durch die Begegnung mit dem Jesuskind von Hoffnung, Wahrheit und Jubel erfüllt – dem Geist der Weihnacht. Doch die Engel mahnen die Hirten keineswegs ohne Grund zur Furchtlosigkeit, denn „Advent“ (lat. adventus) steht für „Ankunft“. Christen erwarten in der Vorweihnachtszeit nicht nur die Geburt Jesu, sondern zugleich die endgültige Wiederkunft Christi am Ende der Welt.
Heute ist die Adventszeit ein betäubendes Fest voller Leckereien und Ablenkungen. Doch das war nicht immer so. Pünktlich zum 11. November (Beginn der Karnevalszeit) wurde alles, was während des bevorstehenden 40-tägigen Fastens an Speisen verboten war, geschlachtet und aufgegessen. Diese Form des Adventsfastens ist seit dem 11. Jahrhundert überliefert. Advent – das war eine Zeit der Buße, der Vorbereitung, der Umkehr und der Versöhnung. Über viele Jahrhunderte hinweg lebten Christen in der ständigen Erwartung vom Ende der Welt. Egal ob Fußvolk, weltliche Fürsten, katholischer Klerus oder Martin Luther – allesamt waren sie Apokalyptiker. Und so stecken im berühmten „Fürchtet euch nicht“ der Engel die Worte des Paulus aus seinem ersten Brief an die Thessalo- nicher: „Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.“ Ein eindringlicher Appell zur Umkehr – besser heute als morgen. Nicht aus Berechnung, sondern aus Liebe.

Weihnachten fordert also Wachsamkeit und Bereitschaft im Geist wie im Herzen. So wird die Stille Nacht zu einer selbstbewussten Mahnwache für Frieden und Nächstenliebe, zu einer Ode an die Gnade Gottes. Wenn Hirten zu Boten Gottes werden konnten, so besteht auch für jeden von uns die Hoffnung, zum Boten Gottes zu werden – zu Engeln, die ihr Zeugnis von der Verwandlung ihrer Herzen durch Gottes Gnade ablegen. Die Legende von der Geburt Christi stellt eine Einladung an uns als Einzelne und als Kollektiv dar. Wir sind dazu eingeladen, die Botschaft der Gnade und der Gerechtigkeit zu empfangen und zu teilen – immer in der Zuversicht, dass die ganze Welt dadurch verwandelt werden möge.
Weihnachten: Optimismus trotz Finsternis
In seinem zweiten Brief an Timotheus bringt Paulus trotz der damaligen Christenverfolgung eine ganz und gar optimistische Zukunftsvision zum Ausdruck. „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2Tim 1,7). Der Mensch sei kein Wesen der Furcht, sondern ein Wesen voll der Schöpferkraft, der Liebe und der Maßhaltung. Die frohe Botschaft des Christentums war für die ersten Gemein- den eine Befreiungsbewegung. Egal ob Jude, Heide, Sklave, Bettler oder Zöllner – die Außenseiter der römischen Gesellschaft wurden plötzlich zu egalitären Botschaftern der guten Nachricht. Im Christentum gehören Freude und Leid immer zusammen. So paradox das anfangs klingen mag: Christen ist befohlen, sich im Leid zu freuen. Es gibt keine weihnachtliche Hoffnung ohne die Einsicht, dass das Leid der Herrlichkeit vorangeht. Die Fähigkeit, sich in Zeiten der Anfechtung zu bewehren, beruht auf einer Hoffnung, die weder durch Leid noch durch Tod zerstört werden kann. Das Christentum hatte erkannt: Wenn unsere Hoffnung in den Dingen dieses Lebens gründet, die wir alle mit Sicherheit verlieren werden, lässt uns diese Hoffnung im entscheidenden Augenblick im Stich. Im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch, in dem das Wort Hoffnung eine Art von Unsicherheit zum Ausdruck bringt, entspringt die christliche Hoffnung einer Gewissheit. Einer Gewissheit über die Menschwerdung und Auferstehung Jesu und dem ewigen Heil aller Gläubigen am Ende aller Zeit (1. Pet 1,5). Die frohe Kunde gilt also ganz besonders all jenen, die allein sind. Den von Kummer Geplagten. Den Außenseitern. Den Zweifelnden. Und den vom Überfluss Betäubten. In Markus 2,17 spricht Jesus: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ So wird die Weihnachtszeit zu einem Fest der Gnade und des freien Willens. Ein Fest der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden.

Wann exakt die Geburt Jesu stattgefun- den haben mag, lässt sich historisch nicht rekonstruieren, doch scheint es, dass unter Kaiser Konstantin I. das antike Sonnwendfest vom Christentum ganz bewusst assimiliert wurde. Anstatt der Sonne zu huldigen, wurde von nun an die Geburt vom „Licht der Welt“ (Joh 8,12) gefeiert. Während Lukas uns von den Hirten berichtet, erzählt Matthäus von den Weisen aus dem Orient. Sie folgen einem Stern bis nach Bethlehem und verkörpern die Vorwegnahme der endzeitlichen Völkerwallfahrt nach Zion. Der Messias wird zum Fixstern aller Menschen. Die weisen Männer beschenken den Messias mit Gold (König), Weih- rauch (Gott) und Myrrhe (Mensch) und greifen damit symbolisch seinen Lebens- und Leidensweg bis zur letzten Ölung (mit Myrrhe) voraus. Die Passion – allgegenwärtig; Auferstehung und Gericht sind verkündet.
Verschwenderische Hoffnung, vertrauensvolle Wachsamkeit
Advent und Weihnachten haben ihren ursprünglichen großen Ernst weitestgehend verloren. Das mag auch der Grund dafür sein, warum sich noch vor Neujahr und Epiphanias der Weihnachtsblues und nostalgische Ernüchterung breitmachen. Wenn nach all den Feiertagen der Alltag zurückkehrt, der letzte Weihnachtsmarkt seine Tore schließt und die Welt dann doch im Dunkel verharrt, offenbart sich das Fundament, auf dem unsere besinnliche Zeit errichtet ist. Das griechische Wort für „Offenbarung“ lautet „Apokalypse“. Wann und ob es je ein Ende der Welt samt Gericht und Rettung geben mag, wie es die Offenbarung des Johannes beschreibt, weiß niemand.
Egal ob Christ oder Atheist – Rituale sind mehr als kollektive Zwangshandlungen. Sie sind wertvolle Nahtstellen an den metaphysischen Leerstellen unseres Alltags. Sie sind Zeugen unserer Herkunft und Zäsuren für endliche Wesen in einem unendlichen Kosmos. Durch Tradition und Überlieferung werden Rituale zu sinnstiftenden Beheimatungen in der Zeit (Byung-Chul Han) und zu Gesten der Demut vor dem Leben.
Es ist Weihnachten – Gott klopft bei uns an. Lauschen wir in die Stille Nacht, dann öffnen wir ihm Tür und Tor. Geben wir ihm Obdach in unseren Herzen, verwandelt er uns wie einst die Hirten. Dann stellen wir fest: „Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen durchflutet Liebe das All“ (Hildegard von Bingen).
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Mankau, Murnau a. Staffelsee 2021.