Warum wir mehr Demut brauchen
Seelenschau 10/22: Grenzenlos glücklich
(Von Thomas Lambert Schöberl – Lehrer, Buchautor & Heilpraktiker)
Egal wohin man blickt – Coaching und Persönlichkeitsentwicklung sind omnipräsent. Selbstfürsorge ist hip. Der Coachingmarkt ist ein Spiegel unserer Wohlstandsgesellschaft, dessen Kehrseite vor allem dann zur Gefahr wird, wenn die Suche nach Erkenntnis zur Nabelschau und zum Maßstab wird, an dem wir auch unsere Mitmenschen messen. Die Naturheilkunde weiß, dass das sokratische „Erkenne dich selbst“ uns dazu auffordert, das eigene, beschränkte Ich auch auf Familie, Gesellschaft, Natur und das Universum zu projizieren, denn dort haben wir unsere Analogie und unseren Platz zu suchen. Erst dann wird eine Innenschau ganzheitlich.

Es war der amerikanische Psychologe Martin Seligman (*1942), der in den 1990er-Jahren die Psychologie revolutionierte. Bis heute gilt er als Gallionsfigur der sogenannten positiven Psychologie. Seligman löste sich von der damaligen Fokussierung auf pathologische Abweichungen und erforschte die Gründe für menschliches Lebensglück. Behaupteten Sigmund Freud (1856 – 1939) und Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) noch, der Mensch könne vom Leben bestenfalls erwarten, nicht unglücklich zu sein, wollte die positive Psychologie das Leid der Menschen nicht nur lindern, sondern gar das Rezept für ein erfülltes Leben ausfindig machen. Die positive Psychologie überlässt die Traumata der Kindheit als Grund für körperliche und psychische Prozesse sich selbst und verschreibt sich einer neuen, optimistischen Sicht auf Mensch und Welt. Optimismus heißt in diesem Kontext, dass Zustände als vorübergehend, singulär und beeinflussbar betrachtet werden. Diese Definition von Optimismus lässt schlussfolgern, dass Glück zu einem gewissen Grad erlernbar sei. So weit, so gut.
Dank Martin Seligman wird Glück zum anerkannten Gegenstand von Forschung und Wissenschaft. Um 1999 wird die positive Psychologie aber auch zu einer führenden Denkströmung in Politik und Wirtschaft und damit beginnt auch ihre Instrumentalisierung innerhalb der Selbstoptimierungs- und Life-Coachingbranche. Die größten Unterstützer der positiven Psychologie sind und waren Unternehmer, die Willenskraft und Führungsstärkte fordern und fördern. Die Vision von der grenzenlosen Entfaltung individueller Potenziale findet sich bereits in der Arbeitsethik des amerikanischen Protestantismus, der das Recht nach Glück zu streben, in der ersten Unabhängigkeitserklärung verewigte. Freilich ist damit auch ein tiefer Glaube an die Unerschöpflichkeit von Ressourcen und an ein ewiges Wachstum für alle verknüpft, und so sah sich nun auch der moderne „selfmade man“ in den Thesen und Studien der positiven Psychologie bestätigt.
Erfolg und Glück wurden zum Ergebnis von Selbstbeherrschung und Eigenverantwortung. Wer scheitert, hat es nur nicht richtig versucht oder nie ehrlich gewollt. Für konservative Geister war die positive Psychologie eine willkommene Theorie, um soziale Ungleichheit zu rechtfertigen. Jeder war seines Glückes Schmied. Fortschrittsglaube, Leistungsgesellschaft und Siegerkult gingen Hand in Hand – bis heute. Dass Persönlichkeitsentwicklung also in aller Munde ist, lässt sich nicht nur auf den wissenschaftlichen Diskurs innerhalb der positiven Psychologie zurückführen, sondern ist auch einer Branche geschuldet, deren Predigt von ständiger Leistungsoptimierung und grenzenlosem Wettbewerb erzählt – der Businesswelt. Für das Management von globalisierten Unternehmen sind Menschen Ressourcen. Es müssen also Wege und Mittel gefunden werden, damit das Personal zur maximalen Wertschöpfung beiträgt. Sozialpsychologen und Managementtheorien stellten heraus, dass schon das sichtbare Interesse am Wohlbefinden der Belegschaft die Qualität und Produktivität der Mitarbeiter fördert – die Geburtsstunde des Teambuildings, des Mental-health-Trends und der positiven Verstärkung an Schule und Arbeitsplätzen. Selbstverständlich sind zufriedene Mitarbeiter/-innen gut für das Arbeitsklima und die Gesellschaft. Niemand hat etwas gegen Hilfsbereitschaft, wertschätzende Kommunikation, weniger Kündigungen und geringeren Krankenstand einzuwenden. Wenn Glück aber eine Entscheidung ist, dann werden unser Arbeitsplatz und unser Karrierepfad allzu leicht zum alles überstrahlenden Fixstern in unserem Leben. Mental-health-Programme versuchen, den Konkurrenzdruck in Form von Wohlbefinden zu kompensieren, ändern aber nichts am System. Mir scheint, dass diese Art der Positivität also oft nur ein neues Wort für Angepasstheit und Disziplin ist.
Der Mensch in Resonanz mit der Natur
In der Naturheilkunde finden wir ein an- deres Konzept der Selbsterkenntnis vor. Die verschiedenen Lehren von der Ganzheitlichkeit der Welt und des Kosmos erklären, dass es bei Selbsterkenntnis um die Erkenntnis geht, dass wir mit dem Selbst verbunden sind. Dass wir zum „Selbst“ gehören, aber kein individuelles „Selbst“ sind. Im ersten Brief an die Korinther 12:12-30 wird die Gemeinschaft als Organismus beschrieben. Jedes Individuum hat als Glied seinen Platz und seine Aufgabe im großen Ganzen. Der Schlüssel zum erfüllten Leben sei also die Resonanz. Diese Idee von Liebe und Frieden mutet dem einen oder anderen in einer Welt mit den aktuellen Krisen als entrückt und naiv an und doch finde ich, dass es sich unbedingt lohnt, diesen Gedanken fortzuspinnen. Aus der Kunst- und Religionswissenschaft wissen wir, dass die Resonanz die Grenze zwischen dem Ich und dem Du auflöst. Auch die Naturheilkunde versucht, den Menschen wieder in Einklang, in sein Gleichgewicht, in Resonanz mit der Natur zu bringen. Aus dieser Geisteshaltung folgt, dass es weder „Krankheiten“ noch „Gesundheiten“ gibt. Es existieren schlichtweg nur Krankheit und Gesundheit als zwei Pole, deren Manifestation verschiedene Symptome kennt.

Wie in der Musik unterscheiden auch viele traditionelle Heiler zwischen Form und Inhalt. Töne, Instrumente, Worte, Rhythmen und Harmonien geben die nötige Form, doch die Komposition entsteht erst durch den Geist des Künstlers und dessen Botschaft. So kann man auch das Bakterium, den Virus oder den blöden Unfall als Form betrachten – der In- halt, die Bedeutung entsteht jedoch erst durch den Geist des Einzelnen. Die Naturheilkunde stellt dann Fragen nach dem genauen Zeitpunkt akuter Beschwerden und deren Kontext. Danach, was die Erkrankung verhindert und was sie erzwingt. Das ganzheitliche Weltbild würdigt die eigene Bedürftigkeit und Begrenztheit als ein grundlegendes Prinzip der Erfahrung von Leben. Aus dieser Demut kann eine Ruhe erstarken, die fernab von Resignation, Scham, Manipulation, Anpassung oder Selbstzweifel, in der Offenbarung ihrer eigenen Wunden, Passivität überwindet und inneren Frieden stiftet. Wenn wir beginnen, Verantwortung in unserem begrenzten Einflussbereich zu übernehmen, stellen wir fest, dass unser Interessensraum und unser Potenzial ganz von selbst wachsen. In vielen Religionen und spirituellen Bewegungen gilt, dass jede Handlung so sein sollte, dass sie unsere letzte sein könnte. So wird der Tod zum einzigen wahren Ratgeber.
Dieser Gedanke mag manchen sauer aufstoßen oder gar dramatisch anmuten – aber doch nur dann, wenn die Fragen des eigenen Lebens auf einer Bühne der vermeintlichen Unsterblichkeit diskutiert werden. Wenn Entwicklung nur um die eigene Persönlichkeit kreist. Unsere Gesellschaft will grenzenlos sein, und Motivationscoaches erzählen davon, dass nur wir selbst das Limit unserer verborgenen Genialität seien. Doch wer keine inneren Grenzen hat, wird passiv, lahm und leicht zum Spielball fremder Einflüsse. Wenn wir inneren Frieden finden, bewahren und kultivieren wollen, so braucht es Grenzen. Dann wird auch manchmal aus einem „Nein“ ein „Ja“ zum Leben und ein „Ja“ zum wertvollen Bekenntnis unser aller Endlichkeit. Bewahren wir uns den Sinn für das Geheimnisvolle, stellen wir mit dem Schriftsteller C. S. Lewis (1898 – 1963) fest, dass Demut nicht bedeutet, weniger von sich selbst zu denken. Es bedeutet, weniger an sich selbst zu denken.