Herbstzeit ist Geschichtenzeit
Seelenschau 10/22: Sehnsucht
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Der Rausch ist vorbei. Fällt das erste Laub, holt auch uns die Schwerkraft wieder ein. Der Herbst entlarvt den Menschen von Neuem als Sehnsuchtswesen. Wo die Rosen ihren Duft verströmten, weht nun ein kühler Wind, und im bunten Wald ruft das Horn zur Jagd. Getrotzt hat der Dürre, was jetzt noch blüht. Dann, in der Stille, schreiben manche ihre Geschichten fort. Sie sortieren, deuten, fantasieren und elaborieren und kommen alsbald zu dem Schluss: Hätten sie nur früher herausgefunden, dass der Sommer in ihren Herzen wohnt – sie hätten ihn dort öfter besucht.
Zwischen Alpenglühen und Meeresleuchten verspricht uns der Herbst ein inneres Licht, das da strahlt, heller als jeder Sonnenschein. Für viele ist der Herbst ein Verlust von Wärme, Licht und sattem Grün, doch wo die Stoppelfelder die Landschaft prägen, gibt es auch volle Scheunen mit Kraftreserven für den Winter. Wer im Rhythmus der Jahreszeiten schwingt, findet einen reich gedeckten Tisch für seine Seele. Die dunkle Jahreszeit schenkt Raum und Zeit für Rituale, fürs Einkuscheln, Lesen, Wandern und Sport im Freien. Im Schatten von Coachingangeboten verschiedenster Art, Psychotherapie und Lichttherapie wird meines Erachtens das Potenzial der Naturheilkunde völlig übersehen. Der moderne Mensch ist von Effizienz getrieben: Kaum einer kommt auf die Idee, dass Zweifel, Geduld und Sehnsucht wichtige Zustände, Tugenden und Phasen im Leben sind. In meiner Praxis habe ich schon unzählige Argumente gehört – aber alle sind sich einig: Es fehlt ihnen an Zeit. Ich entgegne immer, dass ich das stark bezweifle. Heute stünde den Menschen viel mehr Zeit zur Verfügung als noch vor 50 Jahren. An was es wirklich mangelt, ist der verantwortungsvolle Umgang mit ihr. Es mangelt an Ruhe. Einer Ruhe, die uns im Herbst begegnet und uns irgendwie verunsichert?
Warum über das Smartphone kommunizieren, wenn man sich auch zum Sport, zum Musizieren oder Spazierengehen treffen kann? Wenn wir unseren Augen nicht wenigstens einmal am Tag einen Blick in die Ferne gönnen, unsere Lungen mit frischer Luft versorgen und zumindest einmal pro Woche so richtig ins Schwitzen kommen, wundert es nicht, wenn wir zum Wechsel der Jahreszeiten in Lethargie verfallen, weil der Biergarten, das Grillen oder das Sonnenbad so kurzweilig waren. Im Herbst klagen Patienten dann über Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Verspannungen und ein schwaches Immunsystem. Sie sagen: Gar trostlos sei er, der deutsche Herbst. Ich halte das für eine Erfindung der Reisebranche. Der moderne Mensch hat sich von sich selbst entfernt. Wer die Notwendigkeit der zyklischen Naturkreisläufe vergessen hat, der hat aufgegeben, dem Leben auf der Spur zu sein.
Ja, Leben ist Spurensuche. Eine alte Volksweisheit sagt: „Wer Glück finden möchte, folge seiner Sehnsucht“. Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) weiß: „Nicht die sind zu bedauern, deren Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen, sondern diejenigen, die keine mehr haben.“ So werden unsere Sehnsüchte zu unseren Möglichkeiten. Dann führt der Weg zum Herz und zum Verstand eines Menschen über die Geschichten, die er erzählt – nicht über seinen Lebenslauf. Unsere Ahnen waren noch sensible Fährtenleser, wenn sie ihre Geschichten, Gleichnisse, Mythen und Märchen tradierten und ihnen in Liedern, Kunsthandwerk und Jahreszeitenfesten einen symbolischen Ausdruck schenkten. Herbsttagundnachtgleiche, Almabtrieb, Erntedank, Halloween, Allerheiligen oder Laubhüttenfest waren Anlässe, um dem Leben Struktur und um Gemeinschaft Stärke zu verleihen. Herbstzeit war Geschichtenzeit. Die menschliche Gesellschaft ist und bleibt eine Erzählgemeinschaft. Beim Erzählen werden wir uns unserer personalen und sozialen Identität bewusst. Wir können gemeinsam über den Sinn des Lebens diskutieren und den Lauf des eigenen Lebens interpretieren, neu beleuchten, fortspinnen und vernetzen. Der Verlust dieser Traditionen und der fehlende, körperliche Bezug zur Natur lassen den Herbst aber immer öfter im Grau der Städte verblassen. Wer taucht den Film erneut in Farbe? Achtsamkeit, Spiritualität, Glaube, Empathie – ich habe aufgehört, über deren Definitionen zu grübeln; Fakt ist doch, dass wir wieder mehr elementare Erfahrungen brauchen, dass wir wieder wacher werden müssen. Dazu braucht es ungeschminkte Begegnungen mit unseren Mitmenschen, mit der Natur, mit der Welt – mit uns selbst.
Das Zuhören und das Erzählen kultivieren unsere Aufmerksamkeit. Sie üben uns in Gelassenheit, fördern unsere Bereitschaft zu empfangen und zu empfinden. Geschichtenerzähler und ihre Zuhörer machen sich also immer auf eine Suche und so sagt schon eine alte Weisheit: „Wenn du dich wirklich auf die Suche machst, dann kommt dir das Gesuchte entgegen.“ Dazu braucht es kein besonderes Talent – nur etwas Training. In meiner süddeutschen Heimat sagen wir „Zeitlang“, wenn uns die Sehnsucht plagt, weil der Herbst schier endlos scheint. Aber Sehnsüchte sind Geschichten – sie sind, was wir daraus machen. Ahnungen dessen, was wir zu leisten imstande sein werden, was wir schon im Stillen besitzen. Und siehe da, in der herbstlichen Ruhe wandelt eine leidenschaftliche Erzählung das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliches. Nur wer den Sommer auch im Herzen trägt, ihn nicht bloß im Außen sucht, kann auch noch im Winter überzeugend davon erzählen. Ich glaube fest daran: Wenn wir uns öffnen und unsere Sehnsucht ausstrahlen, dann kommt immer auch etwas zurück. Vielleicht wird dann aus Sehnsucht wahre Passion.
Im Herbst will sich das Erlebte verdichten dürfen. Angst vor Wandel und spirituellem Wachstum ist Angst vor dem Tod. Das englische „fall“ erinnert uns noch heute daran, dass nur loslassen kann, wer sich gehalten weiß. Wer jetzt noch festhält, flüchtet vor möglichem Leid und übersieht doch, dass eben darin sein Leiden liegt. Voraussetzung dafür sind aber Vertrauen, Annahme, Gemeinschaft und ein „heiler Ort“. Dieser „heile Ort“ erwartet uns abseits vom Außen im Verborgenen, doch ist die Selbstverurteilung nur allzu oft sein Wachhund. Die heilige und hellsichtige Heilerin Hildegard von Bingen (1098–1179) schreibt den Seelenzustand des „Festhaltens“ der Lebensstation des Alters zu, denn wie schon Rilke wusste: „Das Blütensammeln kommt dem Kind nicht in den Sinn, hält es doch stets von Neuem dem Leben seine Hände hin.“ Als Ausdruck ihrer Verzweiflung versuchen viele Menschen, ihre innere Leere mit Materialismen zu füllen. Ausflüchte sind dann Jugendwahn, Schönheitsoperationen, Süchte, Alkohol, Sex, Essen, Trinken, Urlaube, Designerkleidung. Hildegard empfiehlt Gebete, Fasten und körperliche Abhärtung. Für meine Patienten habe ich dieses Rezept umformuliert in Achtsamkeit, Fasten, Erleben und Bewegen in der Natur. Das Fasten macht den Weg frei für die Innenschau und erleichtert das Loslassen.

Weil es für viele verstörend sein mag, dass wir um unsere Identität wissen und zugleich unaufhörlich nach ihr suchen müssen, empfiehlt es sich, den Herbst als Gleichnis zu betrachten. Und so lade ich sie ein: Greifen Sie sich eine gewöhnliche herbstliche Birne und beschreiben Sie, was sie wahrnehmen. Schildern Sie Farbe, Geschmack, Geruch und Form. Verfolgen Sie nun den Werdegang der Birne. Imaginieren Sie ihre Entwicklung von der Blüte zur Frucht und ihre Verbindung zum Baum. Der Birnbaum selbst vergegenwärtigt sich uns als Einheit von Wurzel, Stamm und Krone. Welch ein Staunen, was für eine Pracht – doch entsprungen aus einem winzigen Birnenkern über Jahrzehnte hinweg! Unfassbar, welch ein Potenzial in solch einem kleinen Birnenkern schlummert. Verdienen also nicht auch Birne und Kern volle Wertschätzung und Bewunderung? Fragen wir in dieser Weise nach unserer eigenen Person, werden alle Geschichten ausschlaggebend, die davon erzählen, wie sich Lebenswege beweisen, worin Lebenssinn gründet. Und falls wir auch nicht zu jenen gehören, die nun im herbstlichen Farbenspiel Berge versetzen, ist uns doch gesagt, dass wir es könnten – blieben wir nicht stille Zeugen, die bloß berichten, wenn sie gerufen werden.