Vielfalt ist ein Kind der Liebe
Seelenschau 09/22: Sommerkind
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Meine Praxis ist ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen, Religionen und Nationen. Jede und jeder darf Gast sein und bekommt den Raum, den er zum Atmen braucht, den individuellen Beistand, den es bei der Geburt neuer Visionen benötigt, oder das Portiönchen Geborgenheit, um neue Hoffnung zu schöpfen. Medizin darf nicht ausschließlich eine Verwaltung der Krankheit sein. Ganzheitliche Medizin ist eine Dienerin des Lebendigen, ein Anwalt der Schwachen, ein Gärtner für die Seele und eine Bewahrerin der Vielfalt.

Offenheit ist meine grundsätzliche Lebenseinstellung. Die Vielfalt, das Experi- ment und der Wandel begegnen uns als Urprinzipien in der Natur. Als Sohn einer sehr unkonventionellen Frau musste ich früh lernen, dass unsere ganzheitliche Weltsicht bei anderen nicht immer auf Verständnis stößt, denn Vielfalt fordert Flexibilität und Ganzheitlichkeit kränkt womöglich das Ego. Meine Kindheit erlebte ich in einem Dorf am Wald ohne geteerte Straßen, ohne Bus und natürlich ohne Internet. Mehrere Bauernhöfe und ein paar Einfamilienhäuser waren alles, was es gab. Zu dieser Zeit war ein spiritueller, feministischer und „alleinerziehender“ Lebensstil für viele Menschen noch etwas sehr Ungewöhnliches. Ich finde, dass das Fremde das Alte und Gewohnte nicht infrage stellen muss; beides kann sich ergänzen, zusammentun und Neues hervorbringen. Über die Jahrzehnte hinweg wich die Skepsis der Dorfbewohner zahlreichen Bekanntschaften, und die liebevolle Art meiner Mutter gewann die Herzen der Menschen.
Trotz zahlreicher Schicksalsschläge hatte meine Mutter einen Garten der ständigen Erneuerung für uns geschaffen. Einen Ort, an dem Grenzen erprobt, Talente entwickelt, Bäume gepflanzt, Quellen entdeckt, Blumen gesät wurden und auch Unkräuter ihre Berechtigung hatten. Ihre Weisheiten machten mich physisch wie psychisch immun und stark für das Leben. Tanzen war unsere Art zu gehen; diskutieren, philosophieren, lachen, singen und weinen unsere Art zu sprechen. Wann immer ich ein neues Musikstück komponierte und meine Mutter darum gebeten hatte, es sich doch bitte anzuhören, nahm sie sich am Abend nach der Arbeit Zeit und schenkte mir Gehör. Für einen jungen Menschen ist die Entwicklung des eigenen kreativen Ausdrucks von immenser Bedeutung, um die eingangs beschriebenen Kompetenzen zu entwickeln. Wir müssen uns angenommen fühlen und Experimente wagen dürfen. Diese Lebensphilosophie gebe ich heute im Schulalltag an die Kinder und während der Gesprächs- oder Kunsttherapie in meiner Praxis an meine Patienten weiter. Langeweile und Reduktion auf natürliche Reize speisen unsere Fantasie und unseren Fleiß. Erfahrung, Arbeit und bewusster Verzicht machen uns robust wie Unkraut. Viele meiner Talente und Stärken hätte ich wohl niemals ohne zahlreiche persönliche Schicksalsschläge sowie Konfrontationen mit schwierigen oder gar hasserfüllten Persönlichkeiten entwickeln können. Wäre alles nur einfach gewesen, würde ich heute sicherlich über kein so weit verzweigtes Wurzelwerk verfügen, das mich stützt und nährt. Gelegentliche Dürren machen resistent. Die Biografie meiner Mutter lehrte mich, Zustände, Systeme, Verhalten und Angewohnheiten stets zu hinterfragen. Nichts dürfe als selbstverständlich hingenommen werden.
Wenn meine Mutter und ich zusammen im Garten Mandalas malten, dann erzählte sie mir vom Leben der Indianer, die ihre Leben zwar einerseits streng nach den von der Natur vorgegebenen Rhythmen ausrichteten, es aber durch ihren flexiblen Lebensstil zugleich stets im Fluss hielten (sie bauten keine Häuser, kannten kaum persönlichen Besitz). In der Begegnung mit der Natur begegnen sich die Indianer selbst. Die Natur wird zu einem Bild und Gleichnis für unser Leben, für seinen letzten Sinn. Wir dagegen neigen dazu, die Rhythmen und die Vielfalt der Natur zu ignorieren. Zusammen bauten meine Mutter und ich fantasievolle Skulpturen aus Sand, und die Menschen waren ganz verrückt danach, sich mit unseren Kunstwerken fotografieren zu lassen. Auch unsere Mandalas malten wir in die nasse Erde. Bilder und Fotos sammelten wir nicht. Wenn ich meine Mutter fragte, warum wir unsere Bilder und Kunstwerke auf Sand bauten, sagte sie: „Unsere Bilder sind keine abgeschlossenen Werke. Um sie am Leben zu erhalten, müssen wir sie immer wieder neu erschaffen.“
Denke ich an die Worte meiner Mutter zurück, dann fällt mir eine sehr ähnliche Geschichte der Performance-Künstlerin Marina Abramovic ein. Sie verbrachte auf dem Weg ihrer spirituellen Entwicklung mehrere Monate in einem tibetischen Kloster. Die Mönche dort hatten Förmchen mit einer kleinen eingeprägten Buddha-Figur für die Besucher bereitgestellt. Marina solle 101.000 dieser winzigen Figuren in nassem Ton formen, acht Stunden am Tag, drei Monate lang. Als sie ihre spirituelle Aufgabe bewältigt hatte, sagte ihr Meister, dass es für sie keinen Grund gäbe, stolz zu sein. Ihr Ego brüste sich mit der Konsequenz ihrer Arbeitshaltung. Sie dürfe die Resultate ihrer Arbeit nicht überhöhen, wenn sie spirituellen Materialismus vermeiden wolle. Und so bekam sie erneut die Aufgabe, Tonfiguren zu formen, drei Monate für acht Stunden, nur diesmal in einem kleinen Fluss, sodass das klare Wasser ihre Ergebnisse sofort hinwegspülte.
Die Befreiung vom spirituellen Materialismus gelingt dann, wenn wir verstehen, dass der Prozess wichtiger ist als das Ergebnis. Das haben wir schon oft gehört, aber selten bewusst erfahren. Diese beiden Geschichten der Achtsamkeit zeigen, dass es auch auf dem Weg der Heilung um den Prozess des Erlebens und des Wandels geht und nicht um ein ganz bestimmtes Resultat. Es ist immer der Prozess, der alles in uns verändert und somit auch das ursprüngliche Ziel. Ganzheitliche Heilung setzt somit. einen Standort- und einen Perspektivwechsel voraus. Dazu gehe ich mit meinen Patienten gerne raus in die Natur, denn die Begegnung in der Natur ist den meisten Großstädtern fremd. Kein Rezept stelle ich so oft aus wie das Zeitverbringen im Wald. In der Vielfalt eines natürlichen Waldes findet jeder eine Pflanze oder ein Tier, das seinem Wesen gleicht oder den nötigen Impuls zur Weiterentwicklung liefert. Der Wald ist eine kostenlose Reha und mein patentfreies Allzweckmittel. Wir wissen, dass Wald unser Stresshormon Cortisol senkt. Die grüne Farbe und ihre Wirkung auf das menschliche Gehirn spielten dabei sicherlich auch eine erhebliche Rolle. Die Geräusche der Natur beruhigen unser Herz-Kreislauf-System, beugen Depressionen und Infarkten vor. Aber auch die Duftstoffe der Bäume sind eine echte Wundermedizin.
Ich denke, dass sich unsere Seelen mehr als je zuvor nach einem natürlichen Umfeld sehnen. In der Großstadt träume ich von grünen Fassaden, blühenden und frei zugänglichen Dächern. Von Werkstätten, in denen Menschen jeden Alters nützliche Fertigkeiten und das Gärtnern lernen, von Gewächshäusern, Schulgärten, Parks und regionalen Märkten. Von offenen Spielflächen, generationsübergreifenden Veranstaltungen und durchmischten Wohnvierteln. Ja, ich träume von der gesellschaftlichen Bereitschaft mit der Diversität meines Gegenübers leben und an ihr wachsen zu dürfen, denn wertschätzender Umgang setzt Werterfahrung voraus. Der Umgang als Begegnungsstil und der Charakter eines Menschen stehen in Wechselwirkung. Auf dem Land hoffe ich auf den Ausbau erneuerbarer Energien, auf eine smarte Verkehrswende und eine Politik, die es den Landwirten ermöglicht, nachhaltig, biologisch und profitabel zu erzeugen. Unsere Zeit ist voller Konfliktherde, doch unser Entwicklungspotenzial war noch nie so groß. Ob uns all das gelingt? Die Antwort auf diese Frage steht nicht in den Sternen, sondern liegt in den Erinnerungen unserer Kindheit verborgen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns im Bedürfnis nach Liebe, Freiheit und Geborgenheit, ganz gleich unserer Herkunft, nicht voneinander unterscheiden. Wir wurden Vater und Mutter, Ärzte, Heilpraktiker, Lehrer, Freunde oder Partner, um uns an die Hand zu nehmen, nicht um uns zu belehren. Darum möchte ich mit den Worten der heiligen Mutter Teresa schließen, die da sagt: „Anfangs glaubte ich, bekehren zu müssen. Inzwischen habe ich gelernt, dass es meine Aufgabe ist, zu lieben. Und die Liebe bekehrt, wen sie will.“