Geh aufs Ganze – Über das Individuum hinausdenken
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Spirituelle Heilung verbindet mehr als Religion und Natur. Die Vernetzung von Naturheilkunde, sozialem Engagement, Landwirtschafts-und Ernährungswende, Natur- und Klimaschutz, Vielfalt und Inklusion, Reformpädagogik und Generationenaustausch atmet vielmehr den Glauben, dass nachhaltiges Handeln eine Begegnung mit dem Lebendigen ist. Wenn wir uns Menschen und dem Planeten helfen wollen, lohnt nicht nur ein Blick auf Ratio und Wissenschaft, sondern ebenso in die Vergangenheit, auf Naturvölker und die Gaia-Hypothese.
„Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ Diese Worte stammen vom evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) und sind kennzeichnend für die Pluralisierung des Offenbarungsbegriffs des 19. Jahrhunderts. Gott begegne uns weder in der Moral noch in der Vernunft. Der Beweis für das Göttliche sei zu finden in unseren Empfindungen und im flüchtigen Gefühl des Erhabenen. Die mythische und verklärte Hinwendung zur Natur im Zeitalter der Romantik spiegelt damit einen zentralen Schöpfungsgedanken aus dem Brief an die Römer (1,20): „Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar.“ Egal ob bei Schleiermacher, bei den Künstlern der Romantik oder innerhalb der altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts – dass die Schönheit und Größe der Natur als eine natürliche Offenbarung Gottes zu deuten sei, ist ein urmenschlicher, kulturübergreifender Sinneseindruck. Diese sinnstiftende Theologie legt nun den ewigen Zeigefinger der Wissensgesellschaft in die brennenden Wunden einer kranken Welt. Was wir daraus erkennen, kann nicht zuletzt über die Zukunft von uns allen entscheiden.
Schon mit Platons Bekenntnis zur Ratio beginnt der Abschied von einem ganzheitlichen Weltbild, in dem „alles so ist wie wir“. Aus prähistorischen Kunstwerken und der Erforschung indigener Stammeskulturen wissen wir: Unsere Utopie einer einzigen, objektiven und rationalen Weltsicht ist keine alternativlose Aufwärtsbewegung, sondern auch eine Verlusterfahrung von Sinn und Beziehung. Die Idee, dass rationale Kontrolle zur Abschaffung von Tod, Krankheit und Gewalt führen könne, hat sich als Trugschluss entlarvt. Und so stellt jede Epoche für sich fest, dass sie den Tod auf eine immer neue Art und Weise einlädt. Im Gegensatz zu unserer modernen Vermeidungs- und Optimierungsmentalität, die unter allen Umständen versucht, den individuellen Tod zu verhindern, wollen ganzheitliche Weltbilder das Leben unter allen Umständen nähren und bewahren – ich nenne das „Fruchtbarkeitsmentalität“.
Ich bin überzeugt, dass in der Rückkehr religiöser, spiritueller Ganzheitlichkeitsbewegungen aus religionswissenschaftlicher Sicht mehr schlummert als der bloße Selbstfindungstrip einer akademischen Mittel- und Oberschicht. In dieser neuen Art der Deutung von Wirklichkeit gilt alles als eine gegenseitige Hervorbringung von Fruchtbarkeit. Während die klassische Pädagogik, allen voran Jean Piaget (1896 – 1980) und Hans Zulliger (1893 – 1965), den Animismus (die Beseelt-/Belebtheit aller Dinge) als ein Merkmal der kindlichen Weltsicht deuten, raten heutzutage immer mehr Anthropologen zu einer animistischen Sichtweise. Wer die Pracht des Lebens und die Wahrnehmung von Schönheit als eine bloße menschliche Projektion deutet, dessen Eindrücke werden immer wieder an der Welt schmerzlich abprallen.

Ressourcenschwund, Flüchtlingsbewegungen und wachsende soziale Un- gleichheit so akut werden konnten, gründet wohl auch in der Kommunikationsunfähigkeit der modernen Wissenschaften. Ihr Credo ist die Sachlichkeit. Die Distanz zum Objekt, die Unbefangenheit gegenüber dem Patienten. Doch wo die emotionale Beziehung zum Gegenüber fehlt – dort scheitert Kommunikation. Wenden wir unseren Blick in die tibetische Naturheilkunde, so stellen wir fest, dass dort die Therapeuten für ihre Patienten beten und hoffen. In der buddhistischen Heilkunst gilt die unbedingte, vorbehaltlose Empathie und Öffnung dem Patienten gegenüber als eine goldene Regel. Hier vereinen sich die vier Postulate ganzheitlichen Handelns:
- Diversität – als Anerkennung der Andersartigkeit und Chance der Selbsterkenntnis durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt.
- Verbundenheit – als ein Gegenpol zum Individualismus und als ständige Beziehungsarbeit mit der umgebenden Wirklichkeit.
- Interaktion – als Prinzip der Vielfalt, des lebenslangen Lernens und der lebendigen Kommunikation verschiedener Deutungssysteme.
- Adaption – als die Bereitschaft zur Veränderung und die Fähigkeit auch zum plötzlichen Wandel.

Die postmoderne Spiritualität hat das dualistische Denken überwunden. Sie knüpft an traditionelle Weltbilder an, in denen sich auch „Heilung“ ganz selbstverständlich wieder auf die verschiedenen Dimensionen des menschlichen Lebens bezieht. In denen Heilung über das Individuum hinaus reicht. In der Naturheilkunde ist spirituelles Denken seit jeher beheimatet. In der Bio-Landwirtschaft und im Veganismus lässt sich eine Ausdehnung und Popularisierung der Ganzheitlichkeit beobachten.
Die Kulturgeschichte menschlicher Weltbilder zeigt, dass Materie und Geist über Jahrtausende keine Gegensätze bildeten – alles war und ist durchdrungen von ein und demselben Hauch, Atem, Wind. So ist es meines Erachtens auch den postmodernen spirituellen Bewegungen zu verdanken, dass die Gaia-Hypothese (Gaia: Personifikation der Erde in der griechischen Mythologie) des Astrophysikers James Lovelock (*1919) immer mehr Zustimmung findet. Lovelock beschreibt den Planeten Erde mit seiner Biosphäre als ein Lebewesen, weil die Biosphäre (die Gesamtheit aller Organismen) nicht nur in der Lage ist, Leben zu schaffen, sondern die Evolution komplexer Organismen ermöglicht. Lovelock selbst lehnt eine animistische Interpretation seiner Hypothese ab und argumentiert, dass die Logik allein keine überzeugenden Gründe für einen Gott liefere. Doch kommt in dem Begriff „Gaia“ (Muttererde) die Beziehung zur Mutter zum Ausdruck. Wenn Lovelock die Erde als selbsterhaltenden Organismus beschreibt, dann wird Gaia zum Akteur und besitzt das Recht auf eine politische Stimme im derzeitigen Geschehen. Vielleicht liegt darin des Pudels Kern – zwischen den Polen von Wissenschaft und Religion, von Wissen und Weisheit.
Kritiker einer ganzheitlichen Weltsicht führen an, dass der omnipräsente Ausdruck eines allimmanenten Schöpfungsbegehrens eine Glorifizierung der Natur sei und deren Grausamkeit ignoriere. Dem ist zu entgegnen, das vor allem indigene Völker das Ökosystem durchaus als große Nahrungskette verstehen, deren Erhalt ein Einwilligen ins Sterben voraussetzt. Die Religionen antworten auf diese Frage mit Opferriten und jeweils sehr klaren Vorstellungen von Maß und Wertschätzung. Ganzheitliche Systeme kennen keinen Ressourcenverbrauch – sie betrachten die Gaben der Natur als ein Geschenk.
Und wenn nun die Religion oder die Spiritualität nur ein neurotisches Festhalten am Menschen als Zentrum der Schöpfung ist? Der Mensch schaffe sich sowieso selbst ab und damit sei das Problem für die Erde bestens gelöst – die Natur fände schließlich immer einen Weg. Dieser Position gilt es entschieden zu widersprechen. Zeigt sich doch, wie sehr wir im Konstrukt unserer Sprache verhaftet sind und wie sehr sie uns zu trennen vermag: die Natur – der Mensch. Wenn wir nur das Wort „Erde“ durch „Muttererde“ oder „Gaia“ ersetzen, dann dämmert uns, dass es kein Menschenopfer braucht, sondern gesundes Vertrauen in und nachhaltigen Respekt gegenüber Mutter und Vater. Man mag über spirituelle Weltbilder unterschiedlicher Meinung sein. Doch sie zeigen uns, dass die Dimension der Sprache und der Bilder, in der sie agieren, einen tiefen Draht zu unserer menschlichen Verfasstheit haben. In dieser stillen Ahnung liegt ihre Legitimation, ihre Schubkraft für unser Leben.