Leuchtspuren – Wiederentdeckung durch innere Einkehr
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Die Weihnachtszeit ist die Zeit der Hoffnung, der Andacht und der Nächstenliebe – der Realitätscheck sieht anders aus. Doch wenn es uns gelingt, statt ständig rastlos nur um uns selbst zu kreisen, kraftvolle Momente der Achtsamkeit und inneren Zentrierung zu erschaffen, kann die spirituelle Bedeutung dieser besonderen Zeit wieder spürbar werden.

Zur Wintersonnenwende beendet die Sonne, die allen Wesen das Leben ermöglicht, ihren Abstieg. Der Winter hat begonnen und alle Kräfte und Säfte der Pflanzen befinden sich in den Wurzeln. Auch wir Menschen werden dann mit unseren Wurzeln konfrontiert, sei es bei familiären Zusammenkünften, bei der stillen Andacht oder in der Sehnsucht nach mehr weihnachtlichem Zauber. Dass die Vorweihnachtszeit für viele von uns aber zum beruflichen und privaten Mara-thon wurde und das Fest zum unausweichlichen Konfliktherd, mag daran liegen, dass wir die Wurzeln der Weihenächte längst vergessen und an die „Xmas“-Industrie verramscht haben. Sich lediglich vom Weihnachtsgeschäft abzuwenden, reicht dabei nicht aus. Ratgeber, Küchentischpsychologie und Neujahrsvorsätze kennen schließlich alle die Floskel vom „Nein-sagen-Lernen“. Was dabei aber außer Acht bleibt, ist, dass wir verlernt haben, uns auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens bewusst einzulassen, zu ihnen „ja“ zu sagen.
Kerzenschein, Lieder, Gebete sind typische Weihnachtsbräuche. Stammesgeschichtlich war in der dunklen Zeit kaum etwas anderes möglich als am Feuer zu sitzen, sich zu wärmen und den alten Geschichten zu lauschen. Das stärkte das Gemeinschaftsgefühl, Innen- und Rückschau kamen in Gang und die Beschäftigung mit sich selbst war unausweichlich. Das menschliche Gehirn ist auf Gemeinschaft, Sippe und Großfamilie geeicht. Umso erschreckender und nicht ohne Folgen ist es, dass seit Jahren die Anzahl der Singlehaushalte stetig zunimmt. Selbstverständlich ist die Befreiung von rigiden Familienstrukturen eine wichtige soziale Errungenschaft, doch hat sie auch einen toten Winkel. Wenn die einzigen Rollen und Identifikatoren eines Menschen Ratio, Beruf und Besitz sind, dann scheinen Sinnverlust, Unruhe, Orientierungslosigkeit und Einsamkeit vorprogrammiert.
Besinnlichkeit ist eine kulturelle Praktik und will gelernt und trainiert werden. Um die vielen langen Stunden in der warmen Stube zu überbrücken, haben Menschen sich der Handarbeit, der Handwerkskunst, dem Musizieren und allerhand anderen selbstzentrierenden Tätigkeiten zugewendet – auch der Andacht und dem Beten. Doch Beten ist aus der Mode gekommen. Im Überfluss unseres Wohlstands hat das Beten als Akt der Demut, des Dankens, der Wertschätzung und der inneren Zentrierung keinen Platz mehr. Unser Streben nach Kontrolle über die Natur und unser Wunsch nach maximaler Absicherung scheinen unvereinbar mit der Ergebnisoffenheit einer spirituellen Weltsicht. Auch das Christkind, dessen Symbolik intellektuell und spirituell um einiges herausfordernder ist als der PR-Gag Weihnachtsmann, ist diesen Rationalisierungsprozessen zum Opfer gefallen. Weihnachten bedeutet für mich die Einsicht einer Transzendenz und die Hinwendung vom Ich zum Du. Auf die eigene Entwicklung bezogen heißt Transzendenz, über sich hinauszuwachsen, über den eigenen Tellerrand zu blicken, die eigenen Bedürfnisse zu hinterfragen und den Blick dem großen Ganzen zuzuwenden. Bei der dauerhaften Integration dieser Aspekte in unser eigenes Leben kann das Beten sehr hilfreich sein. Konfessionen spielen dabei keine Rolle. Aus meiner Sicht ist es gleich, ob die Gebete an einen christlichen Gott, eine buddhistische Gottheit, an die Natur oder den Kosmos gerichtet sind. Die Botschaft und das Ergebnis bleiben gleich.
Viele Studien belegen, dass betende und meditierende Menschen im Schnitt psychisch gesünder und stabiler sind als Atheisten. Das Beten schafft einen heilsamen energetischen Fixpunkt in unserem Leben. Beim Beten schauen wir auf das, was über uns steht. Wir hören auf, um uns selbst zu kreisen. Gebete sind ein aufmerksames Schauen auf die Natur, den Schöpfer und das Leben. Ein betender Mensch handelt immer auch aus seiner inneren Verfasstheit heraus. Dieses Phänomen begegnet uns in ähnlicher Weise auch in der Kunsttherapie oder im kreativen Prozess, doch braucht das Gebet hingegen keinerlei Fähigkeiten oder Werkzeuge.
Nach einigen Jahren der praktischen Erfahrung habe ich festgestellt, dass das Beten einen wundervollen Effekt auf mein unruhiges Herz hatte. Denn der Ort, an dem unser Gebet stattfindet, ist das Herz. Das Herz der Menschen entspricht, im Gegensatz zum Bauch (Sitz der Emotionen und Instinkte) und zum Kopf (Vernunft und Logik), ihrer Entscheidungsmitte. Bauchgefühle sind wichtig, dennoch entscheiden diese überwiegend darüber, ob etwas angenehm oder unangenehm ist. Oft müssen wir aber viel komplexere Entscheidungen treffen. Eine Lebensveränderung, eine Lebensumstellung oder die bewusste Aufarbeitung von Traumata sollten aber nicht abhängig von Lust und Laune beschritten werden. Die Perspektive einer ganzheitlichen Lebensweise ist schließlich keine rosarote Schönfärberei. Die Logik stellt eben nur eine Seite des Lebens dar – und daran erinnert uns auch die Menschwerdung Christi zu Weihnachten. Dann, wenn das Licht der Welt aus der Dunkelheit wiedergeboren wird und wir den Leuchtspuren dieser frohen Botschaft folgen dürfen.
Die Erfahrung des Überlogischen, das die Vernunft übersteigt, macht den Geist der Weihnacht aus. An dieser Stelle landen wir wieder bei unserem Herzen, dem Mittler zwischen Verstand und Gefühl. Es ist unser Herz, das sich nach Abwägung zwischen Geltungsbedürfnis oder Gemeinschaft, Selbstoptimierung oder Selbstakzeptanz, Zufriedenheit oder Streben nach Reichtum entscheidet. Nur das Herz wird aus Liebe verzichten, vergeben und über Schatten springen. Im Gebet stärken wir unsere Beziehung und unser Vertrauen in das große Ganze. Wir unterrichten unser Herz in der sinnlichen Hingabe, wir erleichtern es von schweren Steinen, nähren es durch liebevolle Anteilnahme, schütten es aus und ermöglichen ihm Ruhe und Stille. Auch tiefes Musizieren, Schweigen oder echte Meditation sind für mich Formen des Betens. Die Weihnachtszeit bietet Ihnen hierfür unzählige Anregungen und Ideen. Sprechen Sie sich aus. Gebete entfalten ihre Wirkung in uns und durch uns hindurch, aus uns heraus. Dieser Weg mag uns herausfordern – aber er macht frei.
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Man-kau, Murnau a. Staffelsee 2021