Im Schatten des Skorpions – Wenn die Dunkelheit ins Licht führt
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Der November ist die Zeit der Sammlung, der Reflexion und des Rückzugs in die Tiefe. Eine Zeit, die wir dankbar nutzen sollten. Wenn wir die dunkle Jahreszeit als Chance ergreifen, dann verstehen wir, dass es den Herbst in unserem Leben braucht, um aus unseren Erlebnissen und Erkenntnissen eine Essenz, ein reifes Konzentrat zu destillieren.

In den sagenumwobenen Neumondnächten der kühlen, nebligen Novemberzeit endet die helle Jahreshälfte. Unerlöste Geister schwärmen übers Land und Frau Holle sendet ihre Herbststürme. Die Sonne wandert in den Skorpion. Sie ist müde und schläfrig, als sei sie getroffen vom giftigen Stachel des plutonischen Spinnentieres. Dann, zum „Vollmond des Jägers“ (hunters moon) beginnt die Regentschaft des keltischen Gottes Samain (am Abend vor Allerheiligen). Er erlegt den Sonnenhirsch und entführt dessen Gattin, die Göttin der Pflanzen, in sein dunkles Reich. In der christlichen Ikonografie wandelte sich Samain zum Heiligen Hubertus, der den Sonnen- bzw. Christushirsch erbeutet. Nach dem Erscheinen eines Kruzifixes im Geweih des göttlichen Hirsches lässt sich Hubertus taufen und schwört der Jagd ab. Es ist kein Zufall, dass viele dieser Schlüsselszenen in die Zeit vor dem Jahreswechsel fallen.
Traditionen, Bräuche, Rituale, Märchen und Mythen zelebrieren das Erinnern. Sie mahnen uns in einer modernen, linearen Welt, dass die Sprache unserer Seele eine sehnsuchtsvolle Bildsprache ist. Eine Sprache, die zur Reifung existenzielle, ganzheitliche Erfahrungen braucht. Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud selbst hat bekannt, dass alle Naturwissenschaft, Medizin und Psychotherapie für ihn ein lebenslanger Um- und Rückweg gewesen sei zu der primären Leidenschaft seiner Jugend fürs Menschheitsgeschichtliche, für die Ursprünge von Religion und Sittlichkeit. Und so seien die Urgründe der Menschenseele zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist. Im Leben der Menschheit stellt das Mythische zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des Einzelnen aber eine späte und reife (Karl Kerenyi). Der berühmte Schriftsteller Thomas Mann bringt es auf den Punkt, wenn er beschreibt, dass der Psychologie das mythische Interesse genauso eingeboren sei wie allem Dichtertum das psychologische Interesse.

Wenn von Ende Oktober bis zum 21. November die Sonne im Skorpion steht, beginnt für den achtsamen Naturliebhaber eine komplexe, intensive Zeit. Der Skorpion ist ein in sich gekehrtes und standhaftes Zeichen – das typische „Stille Wasser“. Er ist der Meister der kontrollierten Leidenschaften. So wundert es uns nicht, dass der Advent traditionell Teil einer strengen Fastenzeit war, die direkt am Tag nach Sankt Martin (11.11.) begonnen hat. Allerheiligen, Martinstag, Halloween, Laternen, leuchtende Rüben und Kürbisse oder der Stern von Bethlehem: Das Licht als Thema bestimmt die kommenden Wochen und Monate.
Die Mythologie unserer Vorfahren war unmittelbar in das Naturgeschehen eingebettet und beruhte auf einer ausgeprägten Achtsamkeit, auf scharfen Sinnen, tiefer Weisheit und Ekstasefähigkeit. Die Themenvielfalt im Herbst ist groß. Von intensiven Leidenschaften und dem Drang, sich einer Sache vollständig hinzugeben, bis hin zum Recycling von Ideen oder der Beseitigung von emotionalen und physischen Altlasten – alles ist möglich. Der Herrscher des Skorpions ist Pluto. In der griechischen Mythologie ist er der Hades. Als Archetyp verkörpert er die Dinge, die wir nur allzu gerne verbergen wollen oder die im Schatten liegen, weil uns Scham, Normen oder Tabus an deren Auflösung hindern. Dass Verdrängung aber als ein unbewusster Verstärker fungiert, wissen wir nicht erst seit Freud. Plutos Prozess gleicht der Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling.
In der dunklen Jahreszeit schenkt uns die Natur die dazu notwendige Stille und Einkehr. Verweigern wir uns diesen Zyklen, plagen uns Zustände von Rastlosigkeit, Druck, Stress, Angst und Überforderung. Die Unausweichlichkeit der Entwicklung ist allgegenwärtig – beobachten Sie das Pflanzenreich, die Tierwelt und den Himmel. Es ist nicht zu übersehen.
„Sei wie ein Baum und lasse die toten Blätter fallen“ (Rumi)
Der November ist auch die Zeit der Pilze. Während in Baum und Strauch kaum noch Säfte fließen, wachsen die Pilze im modrigen Boden und zersetzen fleißig totes Laub und Holz. Pilze gehören innerhalb der biologischen Klassifikation weder zu den Pflanzen noch zu den Tieren, sondern bilden ein ganz eigenes, tief verflochtenes, geheimnisvolles Reich. In der traditionellen Heilkunde sind sie wahre Alchemisten. Heilpilze wirken regulierend auf verschiedenste Organsysteme. Somit kann ein und derselbe Pilz sowohl Unterfunktionen als auch überschießende Reaktionen ausgleichen. Die Medizinmänner der Naturvölker nutzten die halluzinogene Wirkung von Pilzen und vor allem der im Oktober nach den ersten Frösten gereiften Tollkirsche für ihre Visionsreisen.

Eine weitere, ganz besondere Heilpflanze ist ebenfalls im November erntereif – die Mistel. Im Volksmund auch Alpranke (Alp = Elfenwesen), Hexennest oder. Gespensterrute genannt. War es zur Sommersonnenwende ein Mistelzweig, mit dem Loki den anmutigen Sonnengott Balder getötet hat, so verkörpert die Mistel in angelsächsischen Ländern bist heute ein Tor zur Zwischenwelt. Als Dekoration über einer Türschwelle befreit sie ihre Betrachter von gesellschaftlichen Normen. Begegnen sich Mann und Frau unter dem Mistelzweig, so dürfen sie sich küssen, egal wer sie sie sind. In der Volksheilkunde fördert die Mistel die Fruchtbarkeit, lindert Geschwüre, Frostbeulen und Ohrenschmerzen. Der Kräuterpfarrer Kneipp und die Heilkundige Maria Treben verordneten Mistel bei Unfruchtbarkeit und Gebärmutterstörungen. Als klinisch erwiesen gilt ihre krampflösende, blutdrucksenkende und harmonisierende (adaptogene) Wirkung. Ferner scheint sie unter Laborbedingungen über tumorhemmende und immunstimulierende Proteine zu verfügen. In der alten Signaturenlehre wird ihr diese Fähigkeit aufgrund ihres Daseins als schmarotzende Pflanze und somit als Analogie zu tumorösen Gewächsen schon lange zugeschrieben.
Spätestens beim Fallen der Blätter wird die Vergänglichkeit allen Seins sichtbar. Die Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit ist aber auch eine Chance zum Aufbruch und eine klare Aufforderung, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es gilt, das Leben mit Inhalten zu füllen und die Ernte zu bilanzieren. Wer rechtzeitig säte, wurde belohnt. Angesichts einer zunehmenden Lichtverschmutzung sollten wir die Dunkelheit als einen fixen Bestandteil unseres Lebens mehr würdigen und Aufmerksamkeit schenken. Ist es doch so, dass immer erst aus der Tiefe der Dunkelheit das Licht hervorbricht – wie der Samen aus der Erde und das Kind aus dem Mutterschoß.
Und so tragen Hildegard von Bingens Worte durch den Schatten des Skorpions: „Wer seinem Gott vertraut, wird auch den Bestand der Welt ehren, den Lauf von Sonne und Mond, Wind und Luft, Erde und Wasser, alles, was Gott um der Ehre des Menschen Willen geschaffen hat und zu seinem Schutz. Einen anderen Halt hat der Mensch nicht.“
Holen Sie den sichtbaren Kreislauf der Natur in Ihre Wohnung, entzünden Sie Kerzen, entschleunigen Sie ihren Alltag und beschäftigen Sie sich mit sich selbst – das ist möglich. Und ja, auf das Laub folgen der Frost und der erste Schnee. Dann verspricht uns auch die Komponistin Kate Bush in ihrem Lied „Snowflake“: „Die Welt ist so laut. Lass dich fallen, ich finde dich.“ Vielleicht machen Sie dann sogar die heilsame Erfahrung, dass „jemand“ ihr „Fallen“ auffängt, ganz gleich welchen Namen Sie ihm geben.