Vom Klang der Gestirne
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Im Flackern des Feuers wird ein Felsvorsprung plötzlich zum Rumpf eines mächtigen Stieres und eine Ecknische zum Versteck einer stolzen Hirschkuh. Für unsere Vorfahren war das Bemalen dieser Felswände ein riskantes Unterfangen. Trotzdem, als sei ihre Kunst die Erfüllung einer spirituellen Pflicht, ein unstillbarer innerer Drang, wagten sie sich in die Dunkelheit, in den Uterus der Erdmutter, und hinterließen uns nicht nur unzählige ihrer rotbraunen Handabdrücke als kollektive Signatur ihrer Naturverbundenheit.

Immer wieder werde ich gefragt, wie es möglich sei, so viele verschiedene Professionen und Interessen in nur einem Leben zu vereinen. Die Antwort auf diese Frage ist mir nie schwergefallen, denn es sind die vielen lauten und stillen Fragen an das Leben selbst, die mich in die Arme der vielen verschiedenen Künste und Wissenschaften trieben. Als Heilpraktiker studierte ich das Wunderwerk Mensch in all seinen vielen Facetten. Doch die wirklich großen und existenziellen Fragen des Lebens beantworten uns weder die Anatomie noch die Psychologie. Auf der ewigen Suche nach dem, was den Menschen im Innersten ausmacht, stranden wir meist unweigerlich an den endlosen Ufern der Künste. Dort entdecken wir – wie einst Kolumbus – ein unbekanntes, weites Land voller neuer Ausdrucksformen und Perspektiven auf die Welt, auf Gott und den Menschen.
Dass Kunst und Musik unverzichtbare Bausteine einer ganzheitlichen Arbeit als Heiler sein sollten, habe ich wohl schon geahnt, bevor ich überhaupt Heilpraktiker, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler oder Lehrer wurde.Heinrich Heine schrieb in seinem Text „Über die französische Bühne“ von 1837: „Was ist Musik? Sie steht zwischen Gedanken und Er-scheinung; als dämmernde Vermittlerin steht sie zwischen Geist und Materie; sie ist beiden verwandt und doch von beiden verschieden; sie ist Geist, aber Geist, welcher eines Zeitmaßes bedarf; sie ist Materie, aber Materie, die des Raumes entbehren kann.“
Seit jeher haben Kunst und Musik durch ihre unmittelbare Wirkung die Menschen in Staunen versetzt. Dieser Faszination sind im Laufe der Kulturgeschichte verschiedenste Mythen, Erklärungs- und Interpretationsansätze entsprungen, wie etwa der Mythos vom Gesang des Orpheus in der Unterwelt oder den Stimmen der verführerischen Sirenen in Homers Odyssee. Gleich ob Musik in der Liturgie als Lobpreisung der göttlichen Schöpfung oder als expressionistischer Ausdruck der individuellen menschlichen Seelenregung diente, so war sie in gewisser Weise immer eine Mittlerin zwischen Körper, Geist und Seele, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt.Seit dem frühen Neolithikum (eine Epoche der Jungsteinzeit) wurden Kunst, Musik und Theater als die Abbildung einer größeren Ordnung hinter der menschlichen Wahrnehmung von Wirklichkeit verstanden. Heute werden sie im Kontext der Kunst- und Musiktherapie zum Psychoanalytiker, zum Seelenforscher, ja, das Kunstwerk wird zur Projektionsfläche des Patienten. Die heilsame, harmonisierende Wirkung von Musiktherapie gilt heute als längst erforscht und belegt.
Der antike Philosoph Pythagoras von Samos (um 570 – 510 v. Chr.) entwickelte auf der Basis seiner Untersuchungen des Nachthimmels die Theorie von der Sphärenharmonie. Als Sphärenharmonie oder Sphärenmusik beschreibt man die Vorstellung, dass bei der Bewegung der Himmelskörper für das menschliche Gehör nicht wahrnehmbare Klänge entstehen. Die Tonhöhen der Himmelskörper definieren sich über deren Geschwindigkeit und Abstände, die sie zueinander einnehmen. Dahinter steckt also die Überzeugung, dass der Kosmos durch eine intelligente, göttliche, mathematische Proportion geordnet ist und sich daher in der Lehre der Gestirne dieselben Gesetzmäßigkeiten wie in der Musik vorfinden lassen. Und so landen wir an dieser Stelle wieder beim Thema Ganzheitlichkeit.
Schon als Kind entdecke ich meine Leidenschaft für Naturmalerei und Musik. Stundelang spielte ich im Wald Flöte und im Haus Klavier – bis die Tasten stecken blieben. Die Natur war meine Inspirationsquelle und die Kunst mein Versuch, all diese Eindrücke zu konservieren, zu filtern und nachzuahmen. So war es nicht verwunderlich, dass ich sehr früh erkannte, dass sich das Leben nicht in einzelne Fragmente, Schulfächer und Schubladen zergliedern lässt. Im Wald konnte ich beobachten, dass jede Pflanze, jeder Baum und jedes Tier einen wichtigen Teil eines komplexen Ganzen darstellen. Alle sind aufeinander angewiesen. Die Kunst und die Musik lehrten mich, dass uns allen eine uferlose kreative Schöpferkraft innewohnt, die sich aus den Wundern unserer Natur speist und ein Abbild ihrer ist.
Während wir mit Sprache und Schrift sehr weit entfernt vom Unbewussten kommunizieren, verbinden uns hingegen Musik, Kunst und Theater mit den uralten, kollektiven Strukturen unserer Seele und den Rhythmen der Natur. Wenn wir uns der Musik und der Kunst hingeben, befinden wir uns ganz im Hier und Jetzt. Es erscheint also sehr schlüssig, dass in nahezu allen Kulturen und Religionen Kunst und Musik den Hauptgegenstand von spirituellen Festen, Riten oder Feiertagen bilden. Diese dem Alltag entrückten Inszenierungen menschlicher Sehnsucht strukturieren das Leben, geben Halt, Hoffnung und Sicherheit, stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt, schaffen Identität, festigen Hierarchien und definieren Verantwortungsbereiche. Die Psychologie bezeichnet Erfahrungen dieser Art als eine sogenannte „Wahrnehmungsfusion“. Dieser Begriff beschreibt nichts anderes als den Zustand, bei dem sich Priester und Gemeinde, Schamane und Stamm, Heiler und Patient, Musiker und Publikum, Chor und Sänger, ein Maler innerhalb seines Werkes oder ein Spaziergänger im Wald von ihren gewohnten sozialen Identifikationen befreien können und mit den wahrgenommenen Subjekten bzw. Objekten verschmelzen. Diese „Wahrnehmungsfusionen“ sollten wir wieder kultivieren und trainieren, um ein tieferes Verständnis und neuen Respekt gegenüber der Natur, unseren Mitmenschen und uns selbst entwickeln zu können.
Extern betrachtet agiere ich in einer Zwischenwelt, die vielen fremd ist oder stark mystifiziert wird. Ich werde gefragt, wie der Spagat zwischen den Künsten, der Naturheilkunde, der Pädagogik und der Theologie funktioniert. Nachdem ich die Künste und das Theater für mich entdeckt und erkundet hatte, stellte ich fest, dass uns diese urmenschlichen Ausdrucksformen resilienter machen, uns durchs Leben tragen – besonders in schweren Zeiten. Sie machen uns empathischer, kreativer, zum aktiven Gestalter, sie fordern und fördern unsere Aufmerksamkeit und unseren Intellekt, entwickeln Koordinationsfähigkeiten, Beobachtungsgabe und Hingabe. Kurz: Die Künste und die Religion sind und waren schon immer wichtige Wegbegleiter und Ratgeber im Prozess menschlicher Heilung bzw. Individuation! Und so ist es kein Zufall, dass die berühmte Heilerin, Kirchenlehrerin und Komponistin Hildegard von Bingen (geboren ca. 1098 in Bermersheim von der Höhe) zu einem meiner größten Vorbilder wurde. Ihre Verknüpfung von Theologie, Naturheilkunde, Kunst und Musik ist unübertroffen.
Dass sich Theologie und Theater den gleichen Wortstamm teilen, ist also kein Zufall (Thea/Theo = Gott). Die einen suchen die Antworten auf der Bühne, dann wird das Theater zur Kathedrale, und für andere ist die Kathedrale eben Rom, Tibet oder Mekka. Entscheidend dabei ist, dass sie uns dazu inspirieren, Fragen an das Leben zu stellen. Kreativität war und ist die Schlüsselqualifikation für Zukunft, und so wurden die Worte des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser (1928 – 2000) zum Wahlspruch jedes meiner Arbeitsfelder: „Die Kunst muss wieder Brücke sein zwischen der Schöpfung, der Natur und der Kreativität des Menschen.“
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Man-kau, Murnau a. Staffelsee 2021