Am Vorabend einer neuen Renaissance
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Wir leben in einer überalterten Gesellschaft. In einem System, in dem alte Menschen von weniger alten versorgt werden. Paradoxerweise sind wir aber zugleich auch einem konsumabhängigen Jugendkult verfallen, der die Chancen, die Vorzüge, die Selbstachtung, aber auch Verpflichtungen des Alters vergessen und untergraben hat. Eine Geisteshaltung, die das Altern verdrängt und „outsourct“, den Sommer zum Dauerzustand erklärt, muss jedes Jahr aufs Neue feststellen, dass sie unaufhörlich am Ast sägt, auf dem sie sitzt – weil die Leugnung von Vergänglichkeit immer auch ein Verrat an der Jugend ist.

Die Tage werden dunkler und die Nächte wieder länger. Seit jeher sind der Herbst und die Dämmerung ein Sinnbild der Selbstreflexion und des Alters. Nach Dürre, Pandemie, Flut und sozialer Spaltung steht uns nun auch eine Wahl bevor. Ob deren Dämmerung eher ein Abend oder ein Morgen sein wird, entscheidet sich diesmal womöglich mehr als zuvor in unseren Herzen.
In der Kunst der Renaissance begegnet uns die Abenddämmerung in der Gestalt eines ergrauten Mannes in Gegenüberstellung der Jungfrau Aurora, einer Personifizierung der Morgenröte. Diese Abbildung geht auf den tragischen Mythos von Eos und Tithonos zurück, dem die Götter Unsterblichkeit verliehen, nicht aber ewige Jugend. Alter, Jugend, Leben und Tod sind also generationsübergreifende, untrennbar verbundene Themen, die es für eine solidarische, weise und zukunftsträchtige Gesellschaft zu wertschätzen gilt.
Als Lehrer kenne ich beide Seiten. Ich kenne die Vorwürfe der Alten, dass unsere Jugend verwöhnt sei, dass es ihr an Kompetenzen, Wissen, Realismus und Arbeitseifer mangle, und ich weiß, dass viele meiner Schüler sich von uns Älteren verraten fühlen. Junge Menschen beobachten den Erfolg ausländischer Bildungssysteme und stellen fest, dass sie mit gleicher oder auch besserer Qualifikation wie die ihrer Eltern niemals den Wohlstand oder die sozialen Möglichkeiten vorheriger Generationen erreichen, geschweige denn im Alter von ihrer Rente werden leben können. Auch die Familienplanung ist kaum finanzierbar. Und siehe da, das Vertrauen wurde abermals erschüttert. Nach anderthalb Jahren Pandemie fehlen noch immer verlässliche Unterrichtskonzepte für den Herbst, und von einer wahren Bildungsreform gibt es keine Spur.
Während Schönwetterfreunde behaupten, dass sich in Globalisierung und Digitalisierung für unsere Jugend unbegrenzte Möglichkeiten eröffnen, werben unermüdliche Lobbyisten für mehr IT-Unterricht und Digitalisierung an Schulen – und das, obwohl längst bekannt ist, dass trotz exorbitant steigender Abiturientenzahlen die Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen Jahr für Jahr in allen Schularten sinken.
Ja, unsere Ratschläge für die Jugend fallen mager aus. Warum haben wir immer noch nicht erkannt, dass die Dilemmata bezüglich Klima- und Naturschutz, Gesundheitspolitik, sozialer Gerechtigkeit und demografischem Wandel nur ganzheitlich gelöst werden können und zwar bereits in der Schule. Geht es um Entwicklungshilfe, dann sind sich Politiker gleich welcher Couleur immer einig, dass es zur Selbsthilfe Bildung braucht. Eine Gesellschaft, die den Wert des Einzelnen an Äußerlichkeiten, an Social-Media-Profilen, an LinkedIn-Lebensläufen, an Bonuszahlungen, an mehr oder minder wertlosen Universitätsabschlüssen festmacht, hat den wirklichen Ruf der Stunde überhört.
Vom einstigen humanistischen Gedankengut, das den Menschen im Mittelpunkt seiner Philosophie sieht, sind nur noch herauspolierte Fassaden übrig geblieben, hinter denen längst schon seelenlose Großkonzerne ihre Flagship-Stores tarnen, deren Arbeitsverträge so funktional sind wie die Architektur ihres restlichen Ameisenstaates.
Wir müssen jetzt so kurz vor den Wahlen verstehen, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, echte Mammutaufgaben sind, die sich nicht während einzelner Legislaturperioden erschöpfen werden. Jeder von uns wird verstehen lernen müssen, dass es Einsatz braucht, dessen Lohn sich nicht kurzfristig nur im eigenen Portemonnaie erkenntlich zeigt. Die Jugend ist ein Spiegel ihrer Zeit und die Lebensumstände, Systeme, Trends und Wahlprogramme, denen sie ausgesetzt sind, prägen die Älteren. „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Dieses Sprichwort bringt es auf den Punkt. Ein überlebensfähiger Sozialstaat kann nicht alleiniger Dienstleister sein, nein, er lebt auch von der Bringschuld seiner Bürger und vom Engagement jedes Einzelnen.

Gerne erinnere ich daran, dass die Zustände im Schulsystem die gleichen sind wie die in der Pflege. So ernüchternd diese Feststellung auch sein mag, so zeigt sie doch auf, wie sehr Alt und Jung im ewigen Zyklus des Lebens miteinander verbunden sind. Am Ende lassen sich die Fragen nach Planbarkeit von Familie, Berufsleben und Wohlstand im Alter eben nicht von-einander trennen – sie stehen in wechselseitiger Beziehung und verhalten sich bestenfalls symbiotisch zueinander.
Unsere Schulen brauchen auch keine weitere Spaltung in fachspezifische oder soziale Klassen, weil das die Hauptschulen weiterhin zur sozialen Resterampe einer Schülerschaft macht, die später in schlecht bezahlten sozialen- und praktischen Berufen arbeiten soll – oft nicht etwa aus Selbstverschuldung, sondern aus dem Kalkül mitunter überheblicher akademischer Eliten und einer Bevölkerung, die wegschaut, weil jeder froh ist, wenn er die eigenen Schäfchen noch ins Trockene bringen kann oder das eigene Kind den Sprung aufs Gymnasium geschafft hat. Dass jene abschätzige Bewertung von Lebenswegen den Fachkräftemangel unter Handwerkern, Erziehern, Pflegern und Arbeitern allgemein noch verschärfen wird, bleibt unbeachtet. Was z. B. Pfleger und Erzieher wirklich brauchen, sind nicht nur bessere Gehälter, sondern mehr Kollegen, also weniger zu betreuende Individuen für den Einzelnen, mehr gesell-schaftlichen Respekt und bessere Aufstiegschancen.
Die Zeit ist überreif für eine neue Renaissance im Sinne einer Erkenntnis, dass Wachstum und alleiniger industrieller und technischer Fortschritt keine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft schaffen konnten – eine Rückbesinnung darauf, dass die Jugend unsere Zukunft ist und wir ihr die Vorbilder zu liefern haben. Wenn wir weiterhin die Natur, die Tiere und den Menschen ausbeuten und unsere Schüler in baufälligen Gebäuden in viel zu großen, segregierten Klassen ohne praktischen Bezug zur sinnlich erfahrbaren Welt unterrichten, wundert es mich nicht, dass es so vielen von uns vor einem Lebensabend graut, an dem ihnen die ach so vernetzte und doch so weltvergessene Jugend von Einst den Löffel reichen soll.