Die eigenen Seelenkräfte entfesseln
(Von Thomas Lambert Schöberl Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Spirituelle Praktiken, Religionen, Natur und Heilung, Kunst und Musik – all das interessiert mich schon mein ganzes Leben lang. Ich frage nach dem Sinn meiner Existenz und erlebe, dass ich mich in der Natur und in der Kunst mit Kräften außerhalb meiner selbst verbinden kann. Die Sehnsucht nach transzendenter Verbundenheit ist so alt wie die Menschheit selbst. Aus dieser urmenschlichen Suche sind über Jahrtausende hinweg unzählige religiöse, spirituelle und philosophische Traditionen entstanden. Was viele dieser verschiedenen Bräuche eint, ist die Erfahrung des Göttlichen oder – anders ausgedrückt – dass Wunder möglich sind.

Als Heilpraktiker bin ich tagtäglich mit den Ängsten und Leiden, aber auch den Wünschen und Hoffnungen verschiedenster Persönlichkeiten konfrontiert. Was das Schicksal vieler chronisch kranker Patienten verbindet: Sie fallen durch das Raster unseres Gesundheitssystems. Für die Patienten, die in meine Praxis kommen, bin ich dann oft die letzte Anlaufstelle nach einer langen Odyssee von Arzt- und Therapeutenbesuchen. Die Erwartungen sind meist groß, und die Überraschung über meine Rezeptierung ist noch größer. Da verschreibe ich dann so unkonventionelle Dinge wie Fasten, ausgiebige Aufenthalte in der Natur, Baummeditationen, Eisbaden, einen Kochkurs, Pilgerreisen, das Singen in einem Chor, das Malen von Bildern, Ahnenforschung, Exerzitien, den Besuch einer Kirche – kurz: die Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Lebens wie Tod, Liebe, Sinn und Gott.
Synergien erkennen und nutzen lernen
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie fundamental wichtig es ist, dass chronisch Erkrankte ganzheitlich behandelt werden – dass also der Verflechtung von Körper, Geist und Seele Rechnung getragen wird. Die Naturheilkunde weiß das seit Jahrtausenden: „Ändert sich der Zustand der Seele, so ändert dies zugleich auch das Aussehen des Körpers und umgekehrt.“ (Aristoteles) Da in unserem Gesundheitswesen die Aktivierung der Selbstheilungskräfte meist an letzter Stelle einer langen Kaskade von Therapien steht, betrachte ich es als meine Pflicht, meinen Patienten Wege zu ihren seelischen Potenzialen aufzuzeigen. Einen ganz entscheidenden Faktor bei der erfolgreichen Aktivierung menschlicher Selbstheilungskräfte sieht der renommierte Medizinsoziologe Aaron Antonovsky in der sogenannten Kohärenz, die er als ein Gefühl von Stimmigkeit und Zugehörigkeit beschreibt. Diese kraftspendende Ei-genschaft versetzt Patienten in die Lage, dass sie sich Lebensereignisse individuell schlüssig erklären können und diese mit Bedeutung aufladen. Daraus resultiert, dass Schwierigkeiten und Schicksalsschläge überwiegend als Herausforderungen denn als Belastungen identifiziert werden.
Heilung: kreativer Austausch von Körper, Geist und Seele
Auch abseits aktueller Forschungsergebnisse verwundert es mich nicht, dass Menschen, die sich mit einer schweren Erkrankung konfrontiert sehen, spirituelle Wege beschreiten. In unserer modernen, überwiegend säkularen Gesellschaft wird die Frage nach einem metaphysischen Sinn erst im Angesicht einer existenziellen Krise salonfähig. Sinnhaftigkeit und Transzendenz sind elementare Bedürfnisse des Menschen. Wenn in unserem Leben für diese Bedürfnisse kein Raum mehr ist, dann verkümmert in uns die Fähigkeit zur Hoffnung und zur Selbstheilung, aber auch die Fähigkeit zur Ausbildung einer gesunden Intuition – einem stabilen Urvertrauen.
Dass die Trennung von Medizin, Psychologie, Seelsorge, Religion, Spiritualität und Kultur in Relation zur Menschheitsgeschichte ein sehr junges Phänomen ist, dessen sind sich die wenigsten bewusst. Seit jeher waren Medizinmänner, Priester, Kräuterweiber, Heiler und Schamanen ganzheitliche Allrounder – Lebensforscher. Sie waren Mittler zwischen der physisch fassbaren und der metaphysischen, geistigen Welt, wohlwissend, dass nachhaltige Heilung ein hochkomplexer, vielschichtiger Prozess ist, der nicht selten mehr als nur gute Medizin braucht.

Selbstfürsorge als Grundlage einer Gesundung
Heute gilt es als gesichert, dass die hoffnungstragende Lebenshaltung von Kirchgängern einen Einfluss auf deren Gesundheit und Lebenserwartung hat. Dass Spiritualität vor Depressionen schützen kann und Meditationen durchaus schmerzlindernde und immunstärkende Effekte erzielen. Kunst- und Musiktherapie schenken neues Selbstvertrauen und finden Anwendung in der Traumatherapie sowie bei der Betreuung von Demenzpatienten. Was all diese Prak-tiken verbindet, ist deren ursprünglich religiöser Kontext als eine bewusstseinserweiternde Technik, die die Loslösung von der irdischen Verhaftung des Menschen erleichtern sollte.
Für die Äbtissin und Heilerin Hildegard von Bingen war die seelische Balance das Fundament guter Gesundheit und auch für Sebastian Kneipp, auf den die Ordnungsthe-rapie der naturheilkundlichen Praxis zurückgeht, ist Heilung die Wiedererlangung einer natürlichen Lebensordnung von Körper, Geist und Seele.
Wundern – der Anfang jeder wissenschaftlichen Forschung
In Zeiten, in denen digitale Praxen zum Alltag werden, Patienten zu Datenträgern mutieren und selbst der Rahmen für Sozial- und Bildungspolitik von Gesundheitsämtern und Virologen gesetzt wird, ist der ganzheitliche Umgang mit kranken Menschen dringlicher als je zuvor. Und doch verebbt der öffentliche Diskurs um Spontanheilungen, Selbstheilungskräfte und nachhaltige Präventivmedizin spätestens beim Stichwort Placebo. Alles darüber Hinausführende bekommt den Stempel Esoterik, Ewiggestrig oder nicht evidenzbasiert. Was bleibt, ist eine seelische Leere bei den Patienten und Abhängigkeit statt Hoffnung und Selbstermächtigung. Beim medizinischen Personal hingegen herrschen nicht selten übermäßige Fluktuation, Erschöpfung und Ausgebranntsein.
Als Heilpraktiker und Lehrer ist die Arbeit am und mit dem Menschen mein täglicher Erfahrungshorizont. Intuitive Elemente und Beziehung spielen dabei immer auch eine mindestens genauso bedeutsame Rolle wie die analytische, wissenschaftliche Ebene. Extern betrachtet agiere ich in einer Zwischenwelt, die vielen fremd ist oder stark mystifiziert wird. Wer sich jedoch der Natur öffnet, dem Menschsein wieder Raum gibt und verstehen lernt, dass es Dinge geben darf, die sich einem rationalen, wissenschaftlichen Weltbild entziehen, kommt zu dem erfahrungsbasierten Schluss: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ (David Ben-Gurion)