Sturmernte – Jetzt zu einem neuen Miteinander finden
(Von Thomas Lambert Schöberl, Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Kräftezehrende Monate liegen hinter uns. Was bleibt, sind die Trümmer einer dekadenten Klassengesellschaft, die ihren inneren Kompass gen Börse kalibriert und deren Wohlstandsbauch die eigenen Kinder frisst. Die Redewendung „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ bringt Herausforderungen wie Gesundheitsreform, Klimawende und soziale Spaltung auf den Punkt. Der Ausspruch stammt aus dem Buch des Propheten Hosea und mahnt vor den Folgen von Korruption. Und so sind es immer die gleichen menschlichen Schwächen, die einer Gesellschaft schaden – damals wie heute.
Als Lehrer und Heilpraktiker begegnen mir täglich die vulnerabelsten Personen unserer Gesellschaft – Kinder, Kranke und Alte. Was diese Gruppen eint: Sie sind nach wie vor die Verlierer unserer Gesellschaft. Sie haben keine Lobby und doch sind sie der soziale Klebstoff, den wir für eine nachhaltigere und faire Zukunft dringend brauchen. So waren es doch unter anderem die heutigen Rentner, die den Wohlstand unserer Gesellschaft erwirtschaftet haben und deren Fleiß uns zur vielbeschworenen reichen Industrienation machte.
Mit stolzer Brust wird behauptet, dass es uns so gut ginge wie noch nie, während unsere Alten ihre Renten „erneut“ versteuern und ihre letzten Tage nur allzu oft in tristen Heimen mit Personalmangel fristen. Sie sind oft einsam. Aber nicht allein. Denn mit verwahrlosten Aufbewahrungsanstalten, bürokratischem Aberwitz und politischem Desinteresse kennen sich auch die Jüngsten unter uns aus – Schüler. Ein Abitur für alle führte uns schnurstracks in eine Bildungsinflation, und weil Papier geduldig ist, sind höhere Bildungsabschlüsse weder ein Garant für Exzellenz und Bildungserfolg noch für gelungene Bildungspolitik. Aber warum investieren, wenn es auch anders geht?
Das Ergebnis dieser Auswüchse ist, dass es uns an Fachkräften, Handwerkern, Auszubildenden und Beschäftigten etwa in sozialen Berufen mangelt, weil wir noch immer der Mär aufsitzen, dass der Wert einer Person einem Berufsprestige entspricht. Der Individualismus ist mitunter zur Ellbogengesellschaft verkommen. Aus der Sippe und der Gemeinde wurden der Singlehaushalt oder die Kleinfamilie. Aus gesunder Landwirtschaft wurde patentierte Monokultur. Aus Patienten wurden Nummern und vermessbare Datenträger. Und die Schule? Sie wurde zum Prügelknaben politischer, gesellschaftlicher und innerfamiliärer Versäumnisse.

Im gesellschaftlichen Diskurs suchen wir nicht mehr nach dem, was uns verbindet, sondern betonen viel zu oft nur das, was uns trennt. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und soziale Verantwortung wird auf den Staat abgewälzt, zu dem wir eine paradoxe Hassliebe pflegen, ohne zu verstehen – der Staat sind doch wir. Und so wird unsere Ignoranz von heute zur Notbremse von morgen, denn wer sich selbst am nächsten ist, hält sich für unverwundbar und denkt nur bis zum Rahmen der eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten. Weitblick sieht anders aus.
Während weltreisende Projektmanager und geborene Akademikerkreise den Verfall einer Hochkultur beklagen, bauen monarchische CEOs Stellen ab, um Dividenden und Kurse in die Höhe zu treiben. Auf der einen Seite der Schlucht blühen Steueroasen, gedeihen Boni und Postenschieberein, auf der anderen Seite bilden überwiegend mütterliches Engagement, Schichtarbeit, Mittelstand und Überstunden, Billiglöhne, Befristungen und Minijobs, Altruismus und Ehrenamt die Herzkammer unserer Gesellschaft. Der Riss reicht tief und wie so oft, braucht es den Sturm, um Demut zu säen. Auch weil Applaus allein nicht reicht und Innovation neue Denkmuster fordert.
Wenn uns Donner und Blitz aus dem Alltagstrott reißen, erinnern wir uns daran, dass sich unser Wesen nur in der Gemeinschaft erfüllt. Dass der Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ von zeitloser Gültigkeit ist, weil er alle erdenklichen Grundgesetze und Menschenrechte in sich vereint. Wir müssen in dieser Welt, die die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung immer mehr verschleiert, hartnäckig nachbohren und wieder lernen hinzuschauen – nicht nur auf Tabellen, Listen und Charts, sondern in Augen, Herzen und Seelen. Dann werden alltägliche Entscheidungen wieder zu echten Gewissensfragen.
Die Weisheiten unserer Vorfahren sind zwar keine naturwissenschaftlichen doppelblinden Fakten, aber sie sind gelebte menschliche Erfahrungen, die sich zu einem großen Teil aus ihrer ganzheitlichen Begegnung mit der Natur speisten. Mutter Erde lehrt uns unmissverständlich all das, was es für eine nachhaltige und zukunftsträchtige Gesellschaft braucht. Die neuen, alten Pioniere der Permakultur haben es längst verstanden. Sie entwickeln in ihren Gärten ein nutzbares Ökosystem mit der Fähigkeit zur Selbsterhaltung. Sozial und gesund. Ressourcensparend und achtsam. Sie setzen auf Qualität statt Masse, auf Vielfalt statt Monokultur, auf Symbiose statt Wettbewerb und Vernetzung statt Segregation. Dann wird mancher Schädling zum Nützling und Vielfalt zur Norm. Erstaunlicherweise lässt sich dieses Naturprinzip auf alle Lebensbereiche übertragen. Egal ob Schule, Gesundheitssystem oder zwischenmenschliche Begegnung – alle profitieren von einem naturnahen Miteinander. Denn wir sind alle untrennbar miteinander verbunden – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.
Die vergangenen Monate haben an uns gezehrt. Ich denke: Es muss uns gelingen, über Inzidenz- und Belegungszahlen hinaus zu blicken. Dafür müssen wir dem Sturm ins Auge schauen. Daher halte ich es für so wichtig, die Konflikte der Gesellschaft jetzt schonungslos zu beschreiben und zu kritisieren und Lösungen anzubieten. Sind wir uns nicht darin einig, dass der Anfang von Veränderung immer damit beginnt, den Finger in die Wunde zu legen? Auch und vielleicht gerade dann, wenn man selbst im Glashaus sitzt. So wird aus Mut Verantwortung und aus Erkenntnis wird Wandel. Wenn Kritik frei sein darf und kein Knecht der Rechtfertigung ist, bewahren wir das, was sich viele vor uns schmerzlich erkämpft haben.
Weiterführende Literatur T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Mankau, Murnau a. Staffelsee 2021