Wunderwerk Körper – was das Herz heilt
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Schon als Kind war ich vom Wunder der Natur und der Evolution begeistert. Der wöchentliche Chemie- und Biologieunterricht gehörte für mich zum spannendsten Augenblick der Woche. Ich war von der Schönheit des Lebens förmlich ergriffen. Alles, was mich umgab, wurde zum Zeugnis einer allumfassenden Intelligenz.

Als Heilpraktiker versetzt mich die Perfektion der menschlichen Anatomie immer wieder in eine große Demut vor der Schöpfung. Unser Körper ist unglaublich stark, intelligent, ausdauernd und kompensiert selbst die gröbsten Vernachlässigungen über eine sehr lange Zeit. Stellen Sie sich vor, unser Herz pumpt pro Minute etwa fünf bis sechs Liter Blut durch den gesamten Körper. An einem Tag sind das mehr als 7.000 Liter; diese Zahl summiert sich in einem Menschenleben auf circa 250 Millionen Liter Blut. Die Beziehung zwischen Körper, Geist und Seele wird am Beispiel des Herzens ganz besonders deutlich. In meiner Praxis sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen eines der häufigsten Beschwerdebilder. Eine kardiologische und hausärztliche Abklärung ist meist schon erfolgt – wenn nicht, gebe ich diese im- mer umgehend in Auftrag. Mir liegt viel daran, dass Patientinnen und Patienten sich darüber bewusst sind, dass ganzheitliche Verfahren oft Zeit und Geduld brauchen, bis sie ihre Wirkung entfalten – und dass bei akuten Fällen immer die Schulmedizin Vorrang hat. Man rät einem Ertrinkenden auch nicht, noch schnell schwimmen zu lernen. Zuallererst muss er aus den Wellen errettet und möglicherweise wiederbelebt werden. Danach ist es aber umso wichtiger, die Umstände des Unglücks zu analysieren, präventiv in Aktion zu treten und schwimmen zu lernen.
Das Herz ist mehr als eine Pumpe
Sicherlich kennen Sie die Redewendungen „ein Herz und eine Seele sein“ oder „ein herzensguter Mensch sein“. Sie haben wohl auch die Erfahrung gemacht, dass ein „Herz brechen“ kann und dass Sorgen oft „ein schweres Herz“ machen. Es liegt nun auf der Hand, dass ich in meiner Praxis das Herz nicht einzig und allein als eine Pumpe betrachte und behandele. Wenn wir uns ein leichtes Herz verschaffen wollen, dann müssen wir unser „Herz ausschütten“ dürfen und es von Zeit zu Zeit auch „auf der Zunge tragen“. Wenn wir ein Leben führen, in dem unser Herz nie höher schlägt oder wir nie erfahren, wie es ist, mit Herzblut einer Leidenschaft zu folgen, wir unseren Beruf nicht leiden können oder es uns ganz und gar an Herzlichkeit mangelt, dann werden wir krank – am Herzen. Bisher ist mir kein Herzinfarktpatient begegnet, der nicht auch unter besonders schweren Lebensumständen oder Herausforderungen litt. Selbst wenn Ernährung, Sport und medizinische Versorgung des Patienten den höchsten Ansprüchen standhalten, so reichen ein Schicksalsschlag, eine seelische Überforderung oder dauerhafter Stress aus, um einen Infarkt zu provozieren.
Mit dem Atem fließt das Leben
Ich kann mich noch gut an eine Patientin erinnern, die unter Herzrasen, Schlaflosigkeit und starker Nervosität litt. Kardiologische und orthopädische Untersuchungen bestätigten ihr völlige Gesundheit. In der Naturheilkunde ist das Symptom aber nicht unser Feind, sondern der Versuch des Organismus zur Selbstregulation. Als Heilpraktiker betrachte ich die Beschwerden meiner Patienten als Sprachrohr der Seele. Wir widmeten uns also der Frage, welchen systemischen Nutzen ihre Beschwerden haben könnten und welche Art der Selbstfürsorge es bräuchte, um einen Heilungsprozess anzustoßen. In der Hälfte der Fälle sind die unterschiedlichsten Beschwerden auf eine jahrelange falsche Ernährung zu- rückzuführen, auf eine aus dem Gleichgewicht geratene Lebensführung oder auf Mangelzustände im Blut. Auf meine Empfehlung hin erlernte die junge Frau eine Vielzahl von Atemtechniken, die sie sogar während der Arbeit ausführen konnte. Sie halfen ihr dabei, ein neues Körpergefühl zu entwickeln, das Nervensystem zu beruhigen und die Verspannungen ihrer Atemhilfsmuskulatur zu lösen. Ihr Brustkorb öffnete und weitete sich zunehmend. Eine mehrwöchige Kunsttherapie sollte ihr helfen, einen Ausdruck für ihre unterdrückten Gefühle zu finden. Der Kaffee am Morgen wurde durch einen Heilkräutertee ersetzt, und die Einnahme von Passionsblume, Melisse, Linde, Hopfen, Baldrian, Johanniskraut, Weißdornblüten, -beeren und blättern beruhigte ihr Herz. Mit der Bitte, täglich vor der Arbeit oder am Abend einen Moment der völligen Stille im Garten oder bestenfalls im Wald zu verbringen, verschwanden die nervösen Beschwerden, und ihr Herzschmerz wich neuer Lebensfreude. Nach wenigen Monaten war die Patientin sogar schwanger. Bei einer Nachuntersuchung brachte sie mir das Blatt eines Baumes mit. Sie erzählte mir, dass sie bei ihren täglichen Besuchen im Wald einen Lieblingsbaum hatte. Der Baum wurde ihr Freund und ihr persönlicher Rückzugsort von der Welt. Es war das Blatt einer Linde.
Heilkraft der Natur – unterm Lindenbaum
Ihre Geschichte überrascht mich nicht. Die Blätter der Linde sind herzförmig und fanden schon bei den Heilern der Antike regelmäßige Anwendung bei Schlafstörungen und bei erhöhtem Blutdruck unter Stress. Die Linde ist bekannt für ihre fiebersenkenden Eigenschaften und ihre entspannende Wirkung auf unser Herz. Sie spendet uns Geborgenheit, stärkt den Milchfluss der Frau und löst angstvolle Verspannungen. Wegen der Herzform ihrer Blätter wurde sie zu einer wichtigen Darstellerin in der Nibelungensage. Es ist ein Lindenblatt, das Schuld an Siegfrieds Tod trägt.
Die Linde ist eine Analogie des menschlichen Herzens. Eine Vielzahl von Volksliedern rankt sich um diesen wertvollen Baum. Noch heute werden viele Statuen und Kreuze aus Lindenholz gefertigt. Ihr kostbares Holz wird im Handwerk als lignum sacrum (lateinisch für „heiliges Holz“) bezeichnet. Im Brauchtum der alten Germanen diente die Linde als Baum des Gerichts. Die uralte Weisheit der Linde, so glaubte man, brächte die Wahrheit ans Licht. Nicht zuletzt zieren Linden bis heute den Mittelpunkt von Dörfern und Städten. Man sagte ihnen nach, dass sie Sorgen und Kummer von den Menschen fernhielten.
Auch Bäume empfinden Schmerzen
So hat jede Generation, jede Konfession, jede Kultur und jeder Stamm intuitiv die Kräfte der Heilpflanzen für sich entdeckt. Es ist an uns, dieses ganzheitliche Erbe zu bewahren und die menschliche Erfahrungswelt nicht auf die bloße Lehre chemischer Bausteine zu reduzieren. Die Beziehung der Lebewesen untereinander ist viel komplexer, als wir bisher ahnten. Heute wissen wir, dass Bäume Schmerz empfinden, untereinander kommunizieren, sich gegenseitig versorgen und über eine gewisse Intelligenz verfügen. Meine Patientin litt an gebrochenem Herzen. Dieses Syndrom ist in der Naturheilkunde ein uraltes und anerkanntes Leiden. Die Linde war in diesen schweren Zeiten ihre Seelenpflanze und spendete ihr die nötige Kraft. Ja, ganz gleich, wohin wir in der Natur blicken – sie lässt uns immer wieder staunen.
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Mankau, Murnau a. Staffelsee 2021