Das Kreuz mit der Vergebung – Verwandlung
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Die Frage nach Schuld, Vergebung, Tod und Erlösung ist jedes Jahr zu Ostern besonders präsent. Die Osterzeit bereitet mit ihren Symbolen, Ritualen und Erzählungen einen fruchtbaren Acker für die Saat der Vergebung – die Hoffnung. Wenn wir jetzt Bezüge und Beziehungen neu sortieren, birgt sie die Chance auf frische Impulse. Ob eine missglückte Beziehung, eine geraubte Lebensperspektive, Missbrauch oder berufliche Misserfolge: Es gibt viele Situationen, die Menschen ans Kreuz bringen. Es gibt mindestens ebenso viele Ansätze, mit der Schuldfrage umzugehen. Psychologie, Philosophie oder Theologie erreichen uns angesichts von Wut oder Enttäuschung trotzdem oft nicht.

Schon in vorchristlichen Zeiten feierten wir Ostern (altgermanisch: Austro = Morgenröte) als eine Zeit fruchtbarer Entwicklungspotenziale. Aber Ostern ist keine Wiederbelebung – es ist Verwandlung. Bleiben wir nur am Vergangenen haften, haben wir nichts zu gewinnen. Außer künftigem Schmerz. Draußen in der Welt begegnen wir nur einem halben Himmel. Der andere liegt in uns. Die moderne Psychotherapie hat den Begriff der Vergebung über Generationen hinweg umschifft. Die Distanz zur Spiritualität wurde als Errungenschaft propagiert. Heute mehren sich auch in der Wissenschaft wieder Geister, die in religiöser Verwurzelung eine wertvolle Ressource für unsere ganzheitliche Gesundheit erkennen. Der Prozess der Vergebung birgt bereits im Kleinen eine lebensverändernde Wirkung. Vergebung ist mehr als ein nützliches verhaltenstherapeutisches Tool. Vergebung ist eine Frage der Weltanschauung und des Menschenbildes und immer auch eine Öffnung hin zum Transzendenten. Ein Bekenntnis zu dem, was dem menschlichen Einfluss entzogen bleibt.
Die Unfähigkeit zur Vergebung ist ein vermeintlicher Selbstschutz. Natürlich scheint es entlastend, sich nicht mit bedrohlichen Gefühlen wie Schmerz, Hilflosigkeit, Wut und Hass auseinandersetzen zu müssen. Unversöhnlichkeit scheint uns davor zu bewahren, den eigenen Anteil an der gegebenen Situation anerkennen zu müssen. Als Opfer bleiben wir passiv, können Zuwendung und Verständnis einfordern und auf einer Entschuldigung beharren. In der Vergebungsverweigerung erhalten wir unser bisheriges Selbstbild, sind im Recht und können uns moralisch erhaben fühlen. Letztendlich versuchen wir, uns vor einer erneuten Verletzung zu schützen. Vergebung ist aber nicht mit Versöhnung gleichzusetzen. Sie ist das Ergebnis eines tiefgreifenden Lernprozesses.
Vergebung bedeutet, Destruktives loszulassen
Vergebung darf individuelles Leid nicht relativieren, vergessen machen, kleinreden oder verdrängen. Vergebung ist die freie Entscheidung, nicht länger auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen. Begreifen wir Vergebung als ein Loslassen von alten und destruktiven Gedanken, so hängt unser Lebensglück vom Vergeben ab. Denn: Eine verlorene Kindheit ist nie mehr aufzuholen oder in Gütern zu ersetzen. Alles, was mir mein Vater schenken konnte, war eine Entschuldigung. Wir müssen aufhören von Menschen Schuld einzutreiben zu wollen, die uns nicht bezahlen können.
Eine Geschichte besagt, dass die ersten Missionare auf Grönland in der Sprache der Inuit kein Wort für „Vergebung“ vorfanden. Sie übersetzten „Vergebung“ als „nicht mehr in der Lage sein, über etwas nachzudenken“. Den christlichen Ansatz betrachte ich als sehr heilsam. In diesem Weltbild existiert eine übergeordnete Gnade. Sie gilt den Mühseligen und Beladenen, die wissen, dass sie der Gnade bedürfen. All jenen, die ihre Schuld bekennen, sich der Selbstkritik und Selbstreflexion unterziehen. Gottes Gnade geht die Stolzen nicht an, sondern nur die Gescheiterten. Oft vergessen wir, dass wir selbst eine Quelle von kleinem oder großem Unrecht sind und dass wir selbst der Vergebung bedürfen.
Im Christentum heißt es: „… Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Dieser Blickwinkel befreit uns vom Richten anderer. Er erlaubt die Versöhnung mit uns selbst. Wir halten fest: Vergebung ist vor allem heilsam, wenn uns eine beidseitige Aussöhnung praktisch nicht möglich ist. Oder wenn wir uns selbst zum Feind erklären. Aber was ist mit Ungerechtigkeit außerhalb menschlichen Zutuns? Was ist mit Naturkatastrophen oder schrecklichen Unglücken? Und was ist mit dem Tod als maximale Kränkung des Individuums?
Eine bestmögliche Welt braucht Vergebung
Unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit kollidiert dann mit unseren Erfahrungen in der Welt. Eine Brüchigkeit der angstmindernden Beziehung zwischen Tod und religiöser Überzeugung ist für die Mehrheit in unserer Gesellschaft längst schmerzhafte Realität. Wir leben in einer medialen Profanisierung und Allgegenwärtigkeit des Todes. Ja, und das Individuum? Es ist konstruktiver Todeskonzepte beraubt. Der Mensch von heute praktiziert eine Fokusverschiebung von spirituellen, urmenschlichen Sinnfragen hin zu einem ewigen Leben im Hier und Jetzt – in Form von Jugendwahn, Machthunger und Materialismus.
Während Naturalisten das Leid in der Welt auf die Brutalität der Natur zurückführen und ihr persönliches Leid im darwinistischen Fressen-und-Gefressen- Werden verdauen, sagen Theologen, dass ein allmächtiger, allwissender und gütiger Schöpfergott eine vollkommen gerechte Welt nur dann ermöglichen könne, wenn er alle Quellen von Unrecht beseitigt. Dann würde die Welt aber zur Dopplung seiner selbst. Das schließt eine menschliche Welt des freien Willens kategorisch aus. Der Philosoph Gottfried Leibniz ergänzt, dass, wenn die Welt schon nicht vollkommen ist, sie doch zwei Hauptkriterien erfülle: größtmögliche Fülle und Harmonie. Leibniz benennt seine Formel als die „der besten aller möglichen Welten“. Ihm nach erkenne man die Qualität der Schöpfung nur, wenn man alles in seiner Gesamtheit betrachte. Diese Perspektive stünde uns Menschen aber nicht zu Verfügung.
Die Liebe deckt viele Sünden zu
Und wie nun weitermachen, wenn das mit der Vergebung noch schwerfällt und der Weltschmerz in stillen Nächten ans Fenster klopft? Lassen wir uns doch wenigstens zur Osterzeit auf den Gedanken ein, dass die Frage dem Grund für Leid in der Welt nicht von uns selbst beantwortet werden kann, sondern dass die Antwort bei Gott aufgehoben ist. Ostern erzählt davon, dass wir unser Leid ins dunkle Grab legen können, es aber nicht dort bleibt, sondern sich verwandelt. Es gibt viele Formen der Versöhnung, des Trosts und der Erkenntnis um Vergebung. Jede ehrliche Umarmung, das Lachen der Kinder, ein Kuss, das Glück der Liebe, die Unwahrscheinlichkeit komplexen Lebens und die Einmaligkeit individuellen Bewusstseins scheinen nur zum Preis der Vergänglichkeit zu existieren. Darum sollten wir uns hüten, der Unversöhnlichkeit einen so alles überdauernden und exklusiven Wert zuzuschreiben.