Im Garten – Zwischen Kultur und Natur
(Von Thomas Lambert Schöberl – Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Mit den ersten Frühlingsvorboten beginnt die tägliche Arbeit im Garten. Die Pflege eines eigenen Gartens war für mich schon immer ein großes Privileg und ein wichtiger Teil der Selbstwerdung. Der Kontakt zur Erde beruhigt und entspannt mich. Im Garten werde ich zum Gestalter und Bewahrer der Schöpfung. Alles, was mir dort begegnet, nährt meinen Körper, meinen Geist und meine Seele.
Sobald die ersten Sonnenstrahlen auf dem Tau der Gräser glitzern, gehe ich jeden Morgen, barfuß und mit einer Tasse Tee, durch meinen Garten. Die morgendlichen Stunden sind erfüllt von einer stillen, aber überschäumenden Lebenskraft. Die Morgenröte verkörpert die Hoffnung und alle in mir vorhandenen Möglichkeiten. In der Esoterik symbolisiert sie das Element Luft und in der Naturheilkunde den Sanguiniker, also den heiteren, lebhaften und teils leichtsinnigen Menschen.

Seit jeher stellt der Garten einen heiligen Bereich dar. Er ist ein Ort der Initiation, der sich ganz entscheidend von der modernen Welt abgrenzt. Spätestens seit der Epoche der Romantik verkörpert der Garten einen geheimen Ort, der oft mit einer Mauer oder einem Zaun von der Außenwelt, der Stadt, abgegrenzt und geschützt wird. Der Garten fungiert somit als ein Ort, der die Entfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen Einheit mit der Natur quasi rückgängig machen soll oder zumindest die Sehnsucht nach dieser Einheit sichtbar macht. In einer Vielzahl von Romanen des 19. Jahrhunderts begegnen wir überwiegend weiblichen Protagonistinnen, die im Garten einen Ort der Selbsterneuerung, der Heilung oder des inneren Friedens finden.
Und fürwahr, auch mein Garten ist eine Kraftquelle. Seine aufwendige Pflege hindert mich daran, kostbare Zeit mit Medien oder stumpfsinniger Unterhaltung zu verbringen. Ein ertragreicher und gepflegter Garten fordert viel Aufmerksamkeit und bringt mich körperlich und geistig in Bewegung – aber auch an Grenzen. Er hat mich dafür sensibilisiert, wie viel Arbeit, Zeit und Energie in einer einzelnen Frucht steckt und wie schützenswert unsere Natur ist. Im Zentrum meines Gartens habe ich als Hausbaum einen Ahorn gepflanzt. Der Ahorn vereint Gegensätze, wirkt beruhigend auf Körper und Geist und erheiternd auf die Seele. In der traditionellen europäischen Naturheilkunde werden seine jungen Blätter in der Küche verwendet oder dienen als Heilmittel bei Entzündungen und Fieber.
Die heutige Einfriedung unserer Gärten betont ihre Bedeutung als Grenzbereiche, denn im Garten begegnen sich Natur und Kultur. Im Gegensatz zum dunklen Wald werden im Garten Triebe und Leidenschaften domestiziert und sublimiert. Unsere Beziehung zur Natur braucht keinen großen Garten oder ein Lehrbuch. Unsere fünf Sinne reichen dafür völlig aus! Da erinnere ich mich an meine Kindheit und an wunderschöne Nächte im Freien unter dem funkelnden Sternenhimmel. In einer Kuhle im hohen Gras haben wir es uns gemütlich gemacht und uns vom Rauschen des Baches in den Schlaf wiegen lassen. Als Erwachsene stehen wir oft in viel größerer Distanz zur Natur. Nicht nur, weil wir es gewöhnt sind, alles auf Kosten und Nutzen zu hinterfragen, sondern auch, weil wir die Natur als etwas Fremdes betrachten.
Während meiner Ausbildung zum Heilpraktiker habe ich eine sogenannte Initiation angetreten. Eine Initiation, Visionsreise oder auch Waldexerzitien genannt, sind Rituale, die uns dabei helfen, Lebensübergänge ganz bewusst zu erleben und zu gestalten. In meinem Fall habe ich drei Tage und drei Nächte allein und fastend im Wald verbracht. Allein hinauszugehen, nur mit sich selbst zu sein und als gestärkte Persönlichkeit zurückzukehren, ist ein uraltes Ritual. Es markiert den Übergang vom Kind zum Mann, vom Kranken zum Geheilten, vom Trauernden zum Gestärkten, der den Weg zurück ins Leben findet, vom Zweifelnden zum Glaubenden oder einfach von dem, der sucht und endlich findet.
Nur mit dem Nötigsten ausgestattet zog ich also in den Wald. Jede Nacht suchte ich mir mit meinem Schlafsack unter einem anderen Baum einen Platz für die Nachtruhe. In den ersten beiden Nächten war es mir kaum möglich, Schlaf zu finden. Mein Kopf war voll mit all den gespenstischen Geschichten aus unserer Kindheit, den Fratzen von Wölfen, Wildschweinen und all den Axtmördern, die uns im Kino verfolgen. Die Nächte währten ewig, und in der tiefen Dunkelheit nahm ich die Geräusche des Waldes sehr viel intensiver wahr als am Tag. Beim Rascheln einer kleinen Maus stellten sich mir blitzartig die Nackenhaare auf. Das Rauschen der Bäume, das Scharren der Wildschweine und die Rufe des Uhus durchbohrten mich wie die Formeln uralter, beschwörender Zaubersprüche. Dann mit Anbruch der Dämmerung, verspürte ich eine nie da gewesene Erleichterung. Auf einer großen Waldlichtung konnte ich mich in der warmen Morgensonne baden. Die Tage waren zeitlos, und das beständige Wetter machte es mir nicht sonderlich schwer, meine Zeit im Wald zu genießen.
Es war am späten Nachmittag, ich hatte gerade einen Eintrag in meinem Tagebuch beendet, als ich auf der Wiese vor mir eine Fähe mit ihren Welpen entdeckte. Sie schienen ganz und gar im Einklang mit ihrer Umwelt zu leben. Ihr liebevoller Umgang untereinander und das bedingungslose Vertrauen der Welpen zu ihrer Mutter rührte mich. Mir wurde bewusst, dass auch ich im Wald nichts zu befürchten hatte. Meine Sympathie den Füchsen gegenüber ließ mich wieder im Wald meiner Kindheit ankommen. Ich sollte nicht mehr ängstlich sein, mich nicht mehr verkriechen und ständig in allen Richtungen nach Absicherung suchen. Die Essenz meiner Initiation im Wald war, dass ich Vertrauen in mich selbst, aber vor allem in meine Umwelt zurückgewinnen musste. Ich sollte lernen, die Dinge in meinem Umfeld nicht ständig zu bewerten oder in ihre Einzelteile zu zerlegen.
Der nächtliche Wald: ein Fest der Sinne
Die letzte Nacht im Wald war wie ein Fest der Sinne! Es eröffnete sich mir eine ganz andere Welt als in den Nächten zuvor. Ich bestaunte die unfassbare Schönheit der Sterne, legte im Schatten der alten Bäume Zeugnis ab – Zeugnis über meine Schwächen, meine Ängste, meine inneren Dämonen, aber auch über meine Hoffnungen, Träume und meinen Glauben. Danach lauschte ich friedlich ruhend dem nächtlichen Konzert der Frösche und den mächtigen spätsommerlichen Bässen der Hirsche. Zuletzt fand ich tiefen und erholsamen Schlaf. Ich fühlte mich ganz und gar zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Tage im Wald hatten mich zurück zur Kraftquelle meiner Jugend geführt, und alles in mir füllte sich mit neuer Lebendigkeit. Das Wissen um die allumfassende Verbundenheit aller Dinge hatte mich bis zum Kern meiner Seele durchdrungen. Ich hatte mich gegen die Opferrolle, gegen die Angst und für das Licht entschieden.
Um uns dem Göttlichen zu nähern, müssen wir nicht unbedingt auf Pilgerreise gehen oder ein Gotteshaus besuchen. Nein, wir müssen hinaus in die Natur gehen – einen Garten anlegen, den eigenen Balkon begrünen, eine Pflanze beim Wachsen begleiten. In meinem Garten habe ich mir ein Umfeld geschaffen, das mir den Kontakt mit dieser Wildnis täglich in Erinnerung ruft. Mein Garten ist ein Mahnmal meiner Schatten und bestärkt mich darin, dass ich den Menschen, den Dingen und den Entwicklungen in meinem Leben Zeit, Geduld und vor allem Vertrauen schenken muss. Im Vergleich zur Wildnis ist der Garten eine Reminiszenz an alte urtümliche Zeiten. Er ist der Gegenentwurf zur Stadt. Wir müssen alle gemeinsam den Menschen in der Stadt viel mehr gemeinschaftliche Grünflächen und offene Dachgärten zur Verfügung stellen. Wir brauchen grüne Orte der zwischenmenschlichen Begegnung, um Kreativität, Gesundheit und ein friedliches Miteinander zu fördern. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine intensive Begegnung mit Mutter Erde die Menschen verändert – diese Begegnung zu ermöglichen und die Natur zu erhalten, ist die Herausforderung unserer Zeit.
Weiterführende Literatur: T. Lambert Schöberl: Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur, Mankau, Murnau a. Staffelsee 2021