Von Bergmännern und Kanarienvögeln
(Von Thomas Lambert Schöberl, Heilpraktiker, Lehrer & Buchautor)
Tief im finsteren Stollen lodert ein kleines Licht. Ob einst im Bergwerk oder heute im modernen Office. Ob Erz oder Kommerz: Lockt uns dieses Licht tiefer in den Stollen? Oder wird es zum Hoffnungsfunken einer abenteuerlichen Lebensreise? Das entscheiden wir jeden Tag neu, weil Mut der Anfang jeder Selbsterkenntnis ist.´

Immerfort, gebückt, halb blind, dem Tag und der Nacht entrückt, führen wir ein Leben im Schatten. Die Absicht einer gierenden Gesellschaft, den Berg zu bezwingen, hält uns untertage. Und Angst ist unsere Fessel. In einem Tunnel aus Echos ist der Gesang eines kleinen gelben Vogels unsere Lebensversicherung gegen unbemerkt austretendes Methan. Erst dann, wenn der Vogel verstummt, es uns den Atem verschlägt, erwachen wir – und erinnern uns.
So weit muss es nicht kommen. Das Leben mutig anzugehen, heißt, dem Herzen folgen. Dass wir Risiken und Herausforderungen annehmen nicht aus Leichtsinn oder Übermut, sondern aus Zuversicht dem Fortschritt gegenüber. Doch dies haben wir verlernt. Von früher Jugend ab an werden wir von den Glaubenss tzen anderer Menschen geprägt. Da Sicherheit für die meisten einer Stromlinienform gleicht, lauten deren Lebensbewältigungsstrategien: verdrängen, vergessen und unterdrücken. Weil wir uns im reinen Leistungs- und Erfolgsstreben gefährlich stark am Außen orientieren, werden Angst und Einsamkeit für viele von uns zum allgegenwärtigen Zustand. Schade. Denn das Streben nach Ansehen und die Angst vor Ablehnung verbauen Lebenschancen.
Ich wäre heute nicht dort, wo ich bin, hätte ich auf die vielen ängstlichen Stimmen in meinem alten Umfeld gehört. Ein Kunst- und Musikstudium sei brotlos, meine Art zu lieben falsch, eine Heilpraktikerausbildung sinnlos. Als Dreißigjähriger sei man zu alt für ein Theologiestudium und man müsse sich im Leben doch auf eine Sache festlegen. Heute stelle ich fest, dass die Schwierigkeiten und Stolpersteine, die mir in jungen Jahren begegnet sind, seien es eine schwere Erkrankung, Existenzangst oder der Alkoholismus meines Vaters, geradezu verhindert haben, dass ich mich im verführerischen, goldenen Käfig der Furcht eingenistet habe. Paradoxerweise begegnen wir der Furcht regelmäßig in der vermeintlich sicheren, aber selten fruchtbringenden Grauzone unserer Bequemlichkeit.
Mut entwickeln wir nur außerhalb der Komfortzone
Nur im Wagnis, außerhalb der Komfortzone, entwickeln wir Mut und Motivation. Erst dann entdecken wir selbstbelohnende Mechanismen. Wir kennen das alle – so oft graut es uns vor dem notwendigen Gespräch, vor dem Versuch einer Versöhnung, dem Lernen, dem Üben oder dem heilsamen Fasten. Doch sollten wir dabei immer an Sigmund Freud denken, der sagte: Das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, das uns zum Altbekannten zurückführt – zurück zum längst Vertrauten.
Mit allen Sinnen ganzheitliche Erfahrungen sammeln
Mag es sein, dass Mut, jene entscheidende Zutat, die es für ein gelungenes, erfülltes Leben braucht, in der Wiederentdeckung dessen liegt, was wir in frühester Kindheit verloren haben? Ist Mut nicht die Fähigkeit, mit allen Sinnen ganzheitliche Erfahrungen zu machen? Ist Erkenntnis, dass Fühlen und Handeln keine voneinander losgelösten Prozesse sein sollten? Wenn wir jenes Urvertrauen und Staunen in und über die Welt neu entdecken, dann wird die Wirklichkeit unter Eindruck von Schönheit und Liebe so präsent, dass sich unser Ego in ein mutiges und zugleich demütiges Selbst verwandelt. Rollen und Maskeraden entlarven sich dann als Selbsttäuschung.
Ja, Selbstwirksamkeit braucht bewältigbare Aufgaben – also stellen Sie sich diesen! Suchen Sie danach! Packen Sie es endlich an! Der Weg in ein angstfreieres Leben führt zwangsläufig über die Bereitschaft, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens Frieden zu schließen. Immer gepaart mit dem Willen und der Offenheit, im Schlaglicht neuer Erfahrungen das Alte auszuleuchten. Dabei geht es nicht darum, dass wir die Welt verändern oder uns selbst. Selbstverständlich werden wir die Angst nicht dauerhaft besiegen können. Vielmehr geht es darum, eine neue Haltung zu entwickeln – ein neues Weltbild.
Dennoch steigen wir aus Furcht vor uns selbst hinab in Platons Höhle und frönen den Schatten fremder Motive, still wissend, dass unser Glück stets in den Aufgaben verborgen liegt, die wir immerzu aufschieben. Doch früher oder später gibt es kein Entrinnen mehr vor der Frage: Sind wir der Berg oder der Minenarbeiter? Sind wir Käfig oder Kanarienvogel? Waren wir wir selbst oder der flackernde Schatten eines anderen? Waren wir in Sicherheit oder mussten wir ersticken?
Der Kanarienvogel sitzt in einem Käfig, besänftigt, beruhigt oder schlägt Alarm. Der Käfig hängt in einem Stollen und der Stollen besteht aus dicken, sicheren Wänden, zwischen denen verzerrte, schattenhafte Lügen hausen. Haben wir endlich gelernt, diese Selbsttäuschung, den Käfig, als das zu erkennen, was er ist, sehen wir urplötzlich auch viele andere Dinge: die offene Tür, den Weg ins Licht und den Himmel in uns. Dann erst lernen wir fliegen.